Impfskepsis in Nigeria:Im Nahkampf gegen Polio

Jedes vierte Baby nicht ausreichend geimpft

Ein Junge aus Lagos (Nigeria) erhält eine Polio-Impfung (Archivfoto vom 17.09.2005). Das ist nicht selbstverständlich.

(Foto: dpa/dpaweb)

Das Beispiel Nigeria zeigt, wie mühsam es ist, eine ideologisch aufgewiegelte Gesellschaft von Impfungen zu überzeugen. Die Kinderlähmung könnte längst ausgerottet sein, doch bizarre Gerüchte machen vor allem Muslime skeptisch.

Von Leslie Roberts

Der Junge war abwechselnd trotzig und den Tränen nah. Sein Vater hatte dem ungefähr 16-Jährigen strikte Anweisungen gegeben, das Impfteam auf keinen Fall ins Haus zu lassen. Und so blieb den Helfern keine Wahl, als ihren Polio-Impfstoff wieder einzupacken. "RX" schrieben sie mit Kreide an die Lehmwand der Behausung im nigerianischen Bundesstaat Kaduna - das Codewort für "Impfverweigerer".

Aber dann wurde der Junge von einem sehr wichtigen Mann auf die Straße gerufen, den Fernsehkameras und Sicherheitsleuten nach zu urteilen, die ihn umgaben. Der wichtige Mann trug eine einfache, weiße Robe und stellte sich als Muhammad vor, auf Hausa, der Sprache in Nigerias Norden. Er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und fragte ihn, was er dagegen habe, dass die Kinder gegen Polio geimpft werden. Mindestens eine halbe Stunde lang hörte er zu, was der Junge zu sagen hatte. Muslime in Nigerias Norden sehen in dem Impfstoff einen Versuch der Christen aus dem Süden, sie auszurotten. Gerüchten zufolge enthalten die Tropfen Aids-Viren oder Stoffe, die unfruchtbar machen.

Warum bekommen wir nur den Polio-Impfstoff, aber keine Hilfe für unsere anderen Probleme, fragte der Junge. Werdet ihr uns zwingen, ihn zu nehmen? Nein, es ist deine Entscheidung, sagte Muhammad, und erklärte, dass der Impfstoff sicher sei. Er habe seine eigenen Kinder impfen lassen. Außerdem habe die Welt die einmalige Chance, die Krankheit, die schreckliche Lähmungen zur Folge hat, auszurotten. Der Junge möge sich dem nicht versperren.

Die ganze Zeit über hatte der ältere Bruder des Jungen hinter einem Vorhang zugehört, der die Eingangstür des Hauses bildete. Jetzt trat er mit einer Frage hervor: Übernimmst du, Muhammad, die Verantwortung, wenn den Kindern etwas passiert? Ja, das tue ich, versprach der Mann. Dann brachte der Bruder die Kinder aus dem Haus, damit sie ihre Tropfen bekommen. In der Menge, die sich mittlerweile versammelt hatte, brach Applaus aus.

Der Mann in der Robe stieg wieder in sein Auto und brauste davon - in einem schwer bewaffneten Konvoi mit blinkenden Lichtern und kreischenden Sirenen. Muhammad Ali Pate war der Gesundheitsminister des Landes, auf einer seiner monatlichen Touren durch den armen Norden Nigerias. Das sei ein kleiner Sieg gewesen, sagte er auf der Rückbank seines Geländewagens. Aber unverzichtbar, um die auch Kinderlähmung genannte Krankheit in Nigeria zu besiegen. "Man braucht Wissenschaft, um Polio auszurotten. Aber es umzusetzen, ist eine Kunst."

Tödlicher Anschlag auf Impfhelferinnen

Seit 25 Jahren versuchen die Weltgesundheitsorganisation und diverse Geldgeber, zum Beispiel Rotary und die Gates-Stiftung, die Polio-Viren auszurotten. Zehn Milliarden Dollar hat das bisher gekostet. Ende 2012 war die jährliche Zahl neuer Fälle weltweit auf 233 gefallen, das Ziel schien in greifbarer Nähe zu sein.

Aber Nigeria ist ein Problem. Dort, und sonst nur noch in Pakistan und Afghanistan ist Polio endemisch, in den drei Ländern gibt es immer wieder Neuansteckungen. Doch das afrikanische Land ist in vielerlei Hinsicht besonders. In Nigeria zirkulieren alle drei Virustypen, die Fallzahlen steigen, und immer wieder springt der Erreger in anderen Staaten, die zwar schon Polio-frei waren, wo aber die Kinder kaum Impfschutz haben. Anfang des Jahres meldeten Somalia und Kenia Ausbrüche.

Darum setzten viele im Westen auf Muhammad Ali Pate. Der 45-jährige Arzt stammt selbst aus dem muslimischen Norden seines Landes, hat nach der Rückkehr von einem Job bei der Weltbank aus den USA im Jahr 2008 die Maßanzüge abgelegt, die traditionelle Robe angezogen und jeden Monat die Region besucht. Er hat Jungen auf der Straße überzeugt, Nomadenkinder am Rand seiner Route geimpft, Höflichkeitsbesuche bei den lokalen Emiren gemacht und lokale Beamte unter Druck gesetzt, die Gelder aus dem Impfprogramm nicht zu veruntreuen.

2010 hatte er die Zahl der Neuinfektionen in seinem Land bereits auf 21 gedrückt. Seither sind aber die Spannungen zwischen Nord und Süd wieder gewachsen, nicht nur wegen der Impfungen. Im Februar wurden im nördlichen Bundesstaat Kano zehn Impfhelferinnen bei einem gezielten Anschlag ermordet. Im Mai erklärte der Präsident Goodluck Jonathan den Ausnahmestand in drei nördlichen Bundesstaaten und schickte die Armee hin. Im Juli dann trat Pate plötzlich und ohne Angabe von Gründen von seinem Ministerposten zurück. Er ist nun Vorsitzender einer Präsidenten-Kommission für die Ausrottung von Polio.

Die Leitung der globalen Initiative zur Ausrottung von Polio GPEI bleibt aber optimistisch, dass das Programm in Nigeria inzwischen genug Eigendynamik hat. "Pate war ausschlaggebend", sagt Chris Maher von der Weltgesundheitsorganisation in Genf. "Sein persönlicher Einfluss auf die Gouverneure im Norden Nigerias hat wohl kaum abgenommen. Womöglich kann er sogar außerhalb der Regierung mehr bewegen."

Ohnehin will Pate seine monatlichen Reisen in seiner neuen Funktion fortsetzen. Bei einer Reise vor seinem Rücktritt räumte er allerdings ein, um seine persönliche Sicherheit zu fürchten: "Ich bin ein sichtbares Ziel für alle, die nicht wollen, dass das Programm Erfolg hat. Boko Haram (die islamistischen Aufständischen) sind zwar nicht gegen die Polio-Impfung an sich. Aber wenn man die Regierung angreifen will, ist es hier einfach." Aber das Programm sei wichtig: "Polio auszurotten wird für das globale Gesundheitswesen so etwas sein wie eine Landung auf dem Mond."

Zum Glück bleibt es auf dieser Reise ruhig. Zunächst trifft sich Pate auf einem Markt in Kaduna, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, mit Polio-Überlebenden. Die Männer können ihre Beine nicht mehr benutzen und bewegen sich mit ihren starken Armen fort; die Hände schützen sie mit Flip-Flops vor dem Asphalt. Sie tragen grüne Westen mit dem Slogan "Werft Polio für immer aus Nigeria heraus" und zeigen dem Minister ein leuchtend blaues Motorrad, das sie in einem Rehabilitationsprogramm gebaut haben. "Polio hat eure Körper gelähmt, aber eure Köpfe sind aktiv", sagt Pate, als er ihnen für ihren Einsatz dankt. Die Überlebenden sind die effektivsten Fürsprecher des Programms. "Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder so enden."

Er nimmt aber auch die Klagen ernst, die er am selben Tag in Kaduna von dem 16-jährigen Jungen hört. Die Leute warten auch auf Impfstoff gegen einen tödlichen Masern-Ausbruch oder auf die neue Straße, die ihnen die Regierung versprochen hat. Die Polio-Impfung zu verweigern, ist oft der einzige Hebel, den sie sehen. Pate hat darum ein Programm aufgelegt, das er "Eine Million Leben retten" nennt. Bis 2015 sollen eine Million vorzeitiger Todesfälle verhindert werden, indem die Menschen grundlegende medizinische Güter bekommen, Impfungen, Malaria-Netze, Mittel gegen das Austrocknen nach Durchfallerkrankungen, Versorgung rund um die Geburt - und das Polio-Vakzin.

Doch gerade im Norden, durch den der Minister tourt, haben viele eine CD gehört, die von einem Pharmazie-Professor an der Universität in Zaria, einer Stadt im Norden des Bundesstaats Kaduna, und einem islamischen Geistlichen aus dem Nachbarstaat Katsina stammt. Für Pate ist der Professor, Haruna Kaita, ein "Pseudowissenschaftler". Er hatte schon 2004 behauptet, Schadstoffe im Impfstoff gefunden zu haben. Vier islamische Bundesstaaten im Norden Nigerias hatten die Impfungen gestoppt, erst nach starkem internationalem Druck wurde das Programm fortgesetzt. Die GPEI hatte zugesagt, nur noch Impfstoff zu benutzen, der in Indonesien produziert wurde, einem islamischen Land.

Bizarre Gerüchte

Doch im Januar 2013 wiederholte Kaita die Vorwürfe auf der CD. Der Impfstoff enthalte verhütende Substanzen und solche, die Geburtsfehler auslösten. Die Kinder könnten Krebs, Aids oder Rinderwahn davon bekommen. Der Geistliche nannte das Programm einen "von den Amerikanern geplanten Genozid an der muslimischen Bevölkerung Nigerias". "Damit sind sie zu weit gegangen", erregt sich Pate. Gegen Kaita, den vom Staat bezahlten Hochschullehrer, konnte der Minister immerhin vorgehen. Der Professor veröffentlichte im April eine Klarstellung, rückte von seinen aufrührerischsten Thesen ab und beklagte zugleich, Sicherheitsbehörden hätten ihn unter Druck gesetzt und Kritiker seine wissenschaftliche Reputation beschädigt.

Als wäre Panikmache noch nicht genug, um das Programm zu behindern, kamen noch administrative Probleme hinzu. Nach einem Treffen von Pate mit Bill Gates vor einigen Jahren hat Nigeria die Polio-Fälle mit dessen Hilfe in ein geografisches Informationssystem eingetragen. Bald zeigte sich, dass sich die Neuerkrankungen an den Grenzen der Bundesstaaten und Distrikte häuften - dort, wo jeder dem anderen die Verantwortung zuschob, die entlegenen Dörfer zu besuchen. Weil Pate inzwischen Daten hortet, und auf der Reise sogar die Impfraten der besuchten Orte durchgeht, hat er mittlerweile die Verzahnung der verschiedenen Einheiten und Organisationen angeleiert.

Als der Minister nach seiner Reise im April wieder in der Hauptstadt Abuja war, kam eine Meldung aus Mogadischu, der Hauptstadt Somalias. Bei einem knapp dreijährigen Mädchen wurde am 9. Mai Polio nachgewiesen, das Virus stammte eindeutig aus Nigeria. Eine Woche später gab es einen zweiten Fall im somalischen Flüchtlingslager Dadaab in Kenia. Bis Ende September zählten die Behörden 191 Neuinfektionen. Und die GPEI musste einräumen, dass sie den Ausbruch nicht binnen 120 Tagen beenden kann, wie es ihr offizielles Ziel ist.

Immerhin scheint das Programm in Nigeria mittlerweile auf Kurs zu sein. Die unabhängige Prüfstelle für die Polio-Ausrottung, die das westafrikanische Land oft genug scharf kritisiert hatte, vergab im Mai gute Noten. "Das Tempo der Veränderungen von Nigerias Polio-Programm war in den vergangenen sechs Monaten größer als jemals zuvor", stellte das Polio Eradication Independent Monitoring Board fest. Die Fallzahlen lägen um 45 Prozent unter denen des Vorjahres.

Als Muhammad Ali Pate dann im Juli zurücktrat, wurde sein Beitrag allgemein gewürdigt. "Pate hat phantastische Arbeit geleistet, und es ist enttäuschend, dass er den Posten als Gesundheitsminister aufgibt", schrieb Michael Galway, der Nigeria für die Gates-Stiftung betreut. "Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das Programm weiter in die richtige Richtung entwickelt."

Pate lebt inzwischen wieder in der Nähe von Washington bei seiner Frau und den sechs Kindern. Er hat eine Honorarprofessur an der Duke University in North Carolina und wird wohl die Gates-Stiftung beraten. Außerdem fliegt er jeden Monat für einige Tage in sein Heimatland. Aus den nördlichen Bundesstaaten Kaduna und Katsina, die er im April bereist hatte, sind seither keine Polio-Fälle gemeldet worden.

Dieser Text ist in einer längeren Fassung in Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, www.aaas.org. Deutsche Bearbeitung: Christopher Schrader

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