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Impfschäden:Schadenersatz für Impfschäden - auch ohne Beweis

  • Das EuGH hat entschieden: Wenn ein Kläger überzeugend argumentiert, dass in seinem Einzelfall der Impfstoff schuld an der Erkrankung sein könnte, wird der wissenschaftliche Beweis obsolet.
  • Deutsche und britische Wissenschaftler äußern Kritik: "Dies Bemühen mag menschlich nachvollziehbar sein, ist aber aus Sicht der Wissenschaft falsch."

Von Kathrin Zinkant

Zahlreiche deutsche und britische Wissenschaftler haben ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zu Impfschäden scharf kritisiert. Die Entscheidung sei besorgniserregend, unwissenschaftlich und gefährde Impfprogramme.

Hintergrund ist die Klage eines Mannes gegen den Impfstoffhersteller Sanofi Pasteur. Der mittlerweile gestorbene Franzose war ein Jahr nach einer Hepatitis-B-Impfung an Multipler Sklerose erkrankt. Er glaubte, dass die Impfung seine Erkrankung ausgelöst habe.

Das oberste Gericht der Europäischen Union hatte in dem Fall vor wenigen Tagen festgestellt, dass einer Klage wegen eines Impfschadens auch dann stattgegeben werden kann, wenn zwar wissenschaftlich kein Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung besteht - dafür aber "bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien darstellen, die den Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen". Zu gut Deutsch: Wenn ein Kläger überzeugend argumentiert, dass in seinem Einzelfall der Impfstoff schuld an der Erkrankung sein könnte, wird der wissenschaftliche Beweis obsolet.

"Willkürlichen Behauptungen wird Tür und Tor geöffnet"

"Das Urteil versucht offensichtlich, die Beweislast für Kläger zu reduzieren", sagt Thomas Mertens, ärztlicher Direktor am Institut für Virologie der Universität Ulm. "Dies Bemühen mag menschlich nachvollziehbar sein, ist aber aus meiner Sicht äußerst problematisch und aus Sicht der Wissenschaft falsch." So sieht es auch Cornelia Betsch, die das Erfurter Center for Empirical Research in Economics and Behavioral Sciences leitet: "Wird die Maßgabe aufgegeben, dass eine kausale Verbindung zwischen Impfung und Schadensfall nachgewiesen sein muss, wird willkürlichen Behauptungen Tür und Tor geöffnet."

Wie diese willkürlichen Behauptungen aussehen, ist hinlänglich bekannt. Impfgegner stellen vor allem Erkrankungen, deren Ursachen medizinisch-wissenschaftlich unklar sind, als eindeutige Folge der schützenden Injektionen dar. Neben Autoimmunkrankheiten wie Multipler Sklerose und Guillain-Barré-Syndrom zählen dazu Autismus und ADHS bei Kindern oder der plötzliche Kindstod von Neugeborenen. Wissenschaftler haben diese Mutmaßungen dabei nicht einfach als Unfug abgelehnt, sondern erforscht, ob an diesen unwahrscheinlichen Verdachtsmomenten etwas dran sein könnte.

Mit eindeutigem Ergebnis: Für keinen der angeblichen Kausalzusammenhänge gibt es wissenschaftliche Belege. Auch nicht im Fall der Hepatitis-B-Impfung. "Zahlreiche bevölkerungsbasierte Studien und gründliche Übersichtsarbeiten haben die angebliche Verbindung zwischen Hepatitis-B-Vakzinen und Multipler Sklerose untersucht", sagt Andrew Pollard, ein Experte für Infektionen im Kindesalter an der University of Oxford. "Die Beweislage ist sehr klar und stützt keinen Kausalzusammenhang mit der Impfung".

Doch so klar die empirische Beweislage auch sein mag, so schwierig ist es, einen Kausalzusammenhang im Einzelfall zu widerlegen. Thomas Mertens erklärt das an einem Beispiel: "Jemand erleidet ein Jahr vor dem Auftreten einer Multiplen Sklerose einen Verkehrsunfall." Nach allem Wissen und Verstand hätten beide Ereignisse keinen kausalen Zusammenhang. "Der formale wissenschaftliche Beweis, dass in dem Einzelfall kein Zusammenhang besteht, wird dennoch nicht möglich sein." Die Befürchtung von Cornelia Betsch ist nun, dass das EuGH-Urteil von Impfgegnern als Präzedenzfall genutzt wird. "Das kann zu einer Verunsicherung der Öffentlichkeit und zu mehr Impfmüdigkeit führen."

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SZ vom 28.06.2017/fehu
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