Idomeni:"Neugeborene in Idomeni schweben schnell in Lebensgefahr"

Idomeni: Mutter mit Säugling in Idomeni.

Mutter mit Säugling in Idomeni.

(Foto: AFP)

Mütter und Kinder stehen in dem Flüchtlingslager, das bis Ende der Woche geräumt werden soll, besonders unter Stress. Der deutsche Arzt Andreas Gammel hat Frauen und Säuglinge vor Ort behandelt.

Interview von Felix Hütten

Der Allgemeinarzt Andreas Gammel sieht die Bilder der Flüchtlinge im griechischen Grenzort Idomeni und beschließt kurzerhand zu helfen. Weil er seine Praxis im schwäbischen Mössingen nur für eine Woche zumachen kann, klappt die Kooperation mit großen Hilfsorganisationen nicht. Der 55-Jährige lässt sich davon nicht abhalten. Gemeinsam mit einem palästinensischen Medizinstudenten der Uni Tübingen, der zuvor bei ihm in der Praxis ein Praktikum absolviert hat, fährt Gammel mit seinem Auto nach Idomeni. Vor Ort verbindet er Wunden, misst Fieber, hört Lungen und Herzen ab. Zurück in Deutschland sagt der Arzt: "Die medizinische Situation vor Ort ist vor allem für Schwangere und Säuglinge schlecht - besonders aber leiden die Menschen unter Hoffnungslosigkeit."

SZ: Herr Gammel, wie geht es schwangeren Frauen und Müttern in Idomeni?

Zu mir ist eine syrische Frau gekommen, die acht Tage zuvor in einer Klinik in Thessaloniki per Kaiserschnitt entbunden hatte. Sie wurde anschließend mit dem Neugeborenen zurück ins Lager geschickt. Die Frau konnte nicht stillen, weil sie wegen Medikamenten und den Nachwirkungen der Narkose das Kind nicht anlegen konnte. Ihre Wunde hatte sich infiziert, sie hat genässt und geeitert, deshalb braucht die Frau zusätzlich ein Antibiotikum. Dadurch musste sie das Kind auf Flaschennahrung umstellen, doch die Nahrung war nach zwei Tagen nicht mehr zu organisieren. Dann hat das Kind Durchfall bekommen. Für den Säugling wurde es lebensbedrohlich, er stand ständig in der Gefahr zu vertrocknen.

Es sind ausreichend Helfer wie Sie vor Ort. Warum gelingt es ihnen nicht, für die Mutter Flaschennahrung zu organisieren?

Wir haben es mit einem logistischen Problem zu tun. Es gibt auch in Griechenland genug Säuglingsnahrung, aber sie kommt bei den Frauen nicht an. Eine Lösung wäre es, den Vater des eben beschriebenen kranken Kindes in einen Laden zu bringen, damit er dort Säuglingsnahrung kaufen kann. Aber niemand will diesen Mann transportieren. Wenn jemand einen Flüchtling in seinem privaten Auto mitnimmt, kann es sein, dass die Polizei ihn als Schlepper belangt. Der Vater kommt also nur so weit, wie ihn seine Füße tragen.

Die Frauen könnten mit ihren Kindern in naheliegende Kliniken gehen.

Praktisch ist das schwierig, weil sie dazu einen Krankentransport brauchen. Jeder Transport mit einer Ambulanz kostet Geld. Auch das Krankenhaus muss bezahlt werden.

Andreas Gammel untersucht ein Flüchtlingskind in Idomeni

Andreas Gammel untersucht ein Flüchtlingskind in Idomeni.

(Foto: privat)

Sind Säuglinge im Lager in Idomeni ausreichend versorgt?

Leider gelingt es vielen Frauen nicht zu stillen, weil sie unter Stress stehen. Stress schränkt die Milchproduktion stark ein. Dann müssen die Mütter versuchen, Babynahrung zu bekommen - und die ist, wie gesagt, vor Ort schwer zu bekommen.

Woher kommt der Stress der Mütter?

Wie alle Menschen dort leben Frauen auf engstem Raum mit wenig Privatsphäre. Wenn ein fremder Mann mit im Großraumzelt lebt, dann haben die Frauen schon mit einfachsten Dingen wie Umziehen ein Problem. Das Schlimmste aber ist die fehlende Perspektive. Die Menschen hoffen noch immer, dass die Behörden die Grenze öffnen. Diese Hoffnung wird täglich enttäuscht. Viele Mütter sorgen sich zudem um die ärztliche Versorgung ihrer Kinder.

Wie berechtigt ist diese Sorge?

Sehr kleine Kinder geraten bei Durchfall schnell in eine bedrohliche Situation, denn ein neugeborenes Kind hat praktisch keine Reserven. Wir haben daher ständig versucht, die Kinder zum Trinken zu bringen. Gelingt das nicht, schweben Neugeborene schnell in Lebensgefahr, denn eine Infusion zu legen ist in einem Zelt schwierig, die Infektionsgefahr ist hoch.

Die Flüchtlinge müssten nicht in Idomeni leben. Die griechische Regierung bietet ihnen an, in feste Unterkünfte im Landesinneren umzuziehen.

Natürlich wäre es für die Regierung einfacher, wenn die Menschen in kleinen Gruppen geordnet und überschaubar in Flüchtlingsheimen wohnen würden. Die hygienischen Zustände würden sich verbessern und damit auch die medizinischen Risiken sinken. Die Menschen sagen aber ganz klar, dass sie Angst haben, interniert und abgeschoben zu werden. Es herrscht großes Misstrauen.

Tragen Sie mit Ihrer Hilfe vor Ort nicht auch dazu bei, dass die Menschen bleiben können und sich weiterhin sperren?

Es sind 10 000, vielleicht 15 000 Individuen dort. Jeder Einzelne von ihnen hat Pläne und Träume, die er verwirklichen will - und das passt nun mal nicht mit den Vorstellungen der griechischen Regierung zusammen. Die Behörden sehen eine Menschenmenge. Ich denke, dass man die Würde und Wünsche jedes einzelnen Menschen beachten muss.

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