Es ist nicht leicht, als Mann älter zu werden. Nehmen wir Martin, 61 Jahre alt und verheiratet, eigentlich gesund, aber trotzdem leidet er irgendwie vor sich hin. Er fühlt sich schlapp und ohne Energie, ist beim Freizeittennis schnell erschöpft und im Bett läuft es auch nicht gut. Seine Lust ist begrenzt, und wenn er doch mal welche hat, bekommt er längst nicht immer eine Erektion. Martins Blutdruck ist in Ordnung, er hat leicht erhöhte Fettwerte, ist - bei sitzender Tätigkeit - übergewichtig und klagt über Reflux und Sodbrennen. Sein Arzt kann keinerlei Auffälligkeiten finden, die Martins Beschwerden erklären könnten.
Martin hat allerdings selbst eine Idee. Im Internet hat er seine Symptome gegoogelt und ist auf eine Seite gestoßen, die seine Beschwerden mit einem Mangel an Testosteron begründet. Bei dem entsprechenden Quiz scheinen alle seine Antworten auf ein Hormon-Defizit hinzuweisen. Und richtig, der Testosteronwert liegt mit 275 Nanogramm pro Deziliter unter der empfohlenen Bandbreite von 300 bis 950 Nanogramm, wenn auch nur knapp.
Martin fragt seinen Arzt nach einer Testosteron-Behandlung, und weil es viele Männer gibt, die sich nicht damit abfinden können, dass ihre Kräfte nachlassen, oder sich wie mancher verirrter Manager auf der Suche nach Vitalität das Hormon sogar regelmäßig spritzen lassen, wird das Pro und Kontra einer Hormonersatztherapie im aktuellen New England Journal of Medicine diskutiert (Bd. 371, S. 2032, 2014). Allerdings fällt die Pro-Position - um es vorwegzunehmen - ziemlich mager aus.
Die Testosteron-Gabe birgt womöglich auch Risiken
Ronald Swerdloff vom UCLA Medical Center spricht sich für die Hormongabe aus und behauptet verwegen, es gebe weder zum Nutzen noch zu den Risiken einer Testosteron-Behandlung hochwertige Daten. Zwar könnte es auch etliche andere Ursachen für seine Beschwerden geben und mehr Bewegung plus Gewichtsabnahme würden Abhilfe schaffen - aber versuchsweise solle Martin doch für sechs Monate mit dem Hormon behandelt werden.
Bradley Anawalt von der University of Washington in Seattle vertritt die Gegenposition energischer: Der Nutzen einer Testosteron-Behandlung sei mehr als fraglich, und verschiedene Gefahren wie erhöhte Risiken für Prostatakrebs, Herzinfarkt und Schlaganfall sind nicht von der Hand zu weisen. Da eine Testosteron-Gabe die Konzentration des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) im Blut erhöht, könne zudem fälschlicherweise ein Krebsverdacht aufkommen. Täglich ein paar Sporteinheiten mit einer intensiveren Belastung als ein paar Tennisschläge sowie ein paar Kilo weniger auf den Rippen würden wohl nicht nur Martins Beschwerden lindern, sondern auch den Testosteronwert im Blut wieder steigen lassen.
Martin Reincke zweifelt die einfache Logik von Mangel und Ersatz grundsätzlich an. "Der Zusammenhang von niedrigem Testosteron und nachlassender Libido ist ziemlich schwach", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, der zugleich Chef der Medizinischen Klinik Innenstadt der Uni München ist. "Große, seriöse Behandlungsstudien gibt es nicht und die kleineren mussten wegen gravierender Nebenwirkungen für Herz und Kreislauf abgebrochen werden." Erfreulicherweise fielen aber nicht so viele Männer auf die falschen Versprechen der Hormon-Propheten herein. "Die männliche Sehnsucht nach einem Jungbrunnen durch Testosteron lässt sich jedenfalls nicht erfüllen", sagt Reincke.