Höhenangst:Hier geht's runter

Höhenangst: Ein Hochseilgarten ist für manche Menschen eine Pein. Ihnen wird schon vom Hinsehen schwindelig.

Ein Hochseilgarten ist für manche Menschen eine Pein. Ihnen wird schon vom Hinsehen schwindelig.

(Foto: lkn)

Der Körper schwankt, der Rücken versteift sich: Hoch über der Erde verspannen alle Menschen. Doch nur manche leiden darunter. Über die noch immer rätselhafte Befindlichkeit in der Höhe.

Von Patrick Illinger

Das rätselhafte Phänomen traf auch den Gelben Kaiser Huang Di. "Immer wenn ich eine klare, kalte Wachturmplattform hinaufklettere und umherschaue, habe ich eine Verwirrung und muss niederknien", wird der vorchristliche chinesische Herrscher zitiert. Alles um ihn herum habe sich gedreht, seine Muskeln wurden schwach, erzählt das Buch "Huangdi Neijing", das zur Grundlage der traditionellen chinesischen Medizin wurde, über das Leiden des Regenten. Das physiologische Weltbild jener Zeit lieferte auch gleich eine Erklärung für den kaiserlichen Schwindel: Die körpereigene Lebensessenz Qi kühlt in der Höhe ab und macht die Augen schwummerig. Hinzu kommen Winde, die in den Nacken eindringen.

Ähnlich beschrieb Damokles im griechischen "Corpus Hippocraticum", wie es ihm unmöglich sei, über eine Brücke oder entlang eines tiefen Grabens zu laufen. Das fand der Gelehrte umso verwunderlicher, als er sich unten im Graben problemlos bewegen konnte. Dass es sich nicht um eine körperliche Unpässlichkeit Einzelner handelt, sondern um ein mitunter kriegsentscheidendes oder gar weltbewegendes Symptom, zeigen Berichte des römischen Schriftstellers Titus Livius. So geriet die Eroberung von Carthago nova, dem heutigen Cartagena in Spanien, ins Stocken, weil Soldaten vom "Augenschwindel" beeinträchtigt von den Leitern stürzten.

Der Gleichgewichtssinn meldet Bewegungen, welche die Augen nicht wahrnehmen

Diese und weitere historische Berichte über das auch heute weit verbreitete, umgangssprachlich meist "Höhenangst" genannte Phänomen hat der Münchner Neurologie-Professor Thomas Brandt zusammengetragen. Der Blick in die Geschichte ist dabei nur ein Teil der Arbeit des weltweit führenden Forschers zu diesem Thema.

Als Mediziner am Uniklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München und Experte für Schwindel- und Gleichgewichtsstörungen erforscht Brandt seit Jahren auch die naturwissenschaftlichen Aspekte des "Höhenschwindels", wie er es nennt. Echte Höhenangst, Akrophobie, Höhenschwindel, Höhenintoleranz und Begriffe wie Vertigo (im Englischen und Französischen gebräuchlich) werden häufig wild durcheinandergeworfen oder synonym verwendet, obgleich sie unterschiedliche Dinge bezeichnen.

Die Angst kann das Leben beeinträchtigen

Der Höhenschwindel ist zunächst ein rein physiologischer Effekt, bei dem der Körper mit Verunsicherung reagiert, wenn das visuelle System - also die Augen in Zusammenarbeit mit dem Sehzentrum im Gehirn - die nahe Umgebung als optische Bezugsstruktur verliert. Die Höhenangst oder auch Akrophobie ist (wenngleich oft im Zusammenhang mit Höhenschwindel auftretend) eine psychische Angststörung, die in ihrer Ausprägung anderen Phobien wie der Platzangst oder der Angst vor Spinnen ähneln kann.

Der Auslöser für Höhenschwindel ist nach Brandts Erkenntnissen eine körperliche Reaktion, die - und das mag überraschen - jeden Menschen betrifft. Auch jene, die Höhe nicht als lästig oder bedrohlich empfinden. Wenn die aus dem Alltag in der Ebene gewohnte sichtbare Umgebung abhandenkommt, der Gehsteig, Treppenstufen, Teppichboden oder Asphalt, zugleich das Auge mit einem weit entfernten Untergrund, einer Straßenschlucht oder einem tiefen Tal umgehen muss, reagiert der Körper mit messbarer Verunsicherung. Jede Augenbewegung, jede Schwankung des Kopfes liefert plötzlich eine ungewohnte visuelle Rückmeldung. Als Reaktion darauf versucht der Körper, unbewusst sein Gleichgewicht verstärkt auszutarieren.

Mit beträchtlichem technischen Aufwand, druckempfindlichen Bodenmatten zum Beispiel, konnte Brandts Arbeitsgruppe bereits vor einigen Jahren nachweisen, dass jeder Mensch, auch jene, die Höhenschwindel nicht als lästig empfinden, mit einem Abgrund vor Augen die Gleichgewichtsfindung ändert. Die Füße suchen verstärkt nach Halt, die üblichen Ausgleichsbewegungen im Stand werden häufiger, der Körper schwankt, und der Rücken versteift sich. Bei vielen Menschen laufen diese körperlichen Reaktionen unbemerkt ab - oder zumindest ohne als störend empfunden zu werden.

"Höhenimbalanz" nennt Thomas Brandt dieses Phänomen, bei dem der Gleichgewichtssinn Körperschwankungen meldet, die das Auge nicht zu bestätigen scheint. Ein knappes Drittel aller Menschen bezeichnet sich selbst als anfällig für Höhenschwindel. Das zeigte eine repräsentative Erhebung mit mehr als 3500 Probanden. Frauen sind demnach etwas öfter betroffen als Männer. Wird das Phänomen lediglich lästig oder beeinträchtigend empfunden, spricht der Münchner Neurologe von "Höhenintoleranz". Mit ernsthaften Panikattacken reagieren verschiedenen Studien zufolge rund vier bis sechs Prozent aller Menschen. Und hier beginnt der Übergang zu einer handfesten Angststörung.

In der Regel treten schwerwiegende Probleme zum ersten Mal im Teenager-Alter auf. Es kann aber auch Erwachsene treffen, die zuvor keine Not mit der Höhe hatten. Bei mehr als jedem Zweiten steigert sich die Reizbarkeit im weiteren Leben. Der häufigste erste Auslöser des Höhenschwindels ist laut Befragungen das Besteigen eines Turms, gefolgt von einer Leiter, einer Bergwanderung und einem hohen Gebäude.

Von den Betroffenen schränken mehr als die Hälfte ihr Leben ein, indem sie Situationen vermeiden, in denen sie sich großer Höhe ausgesetzt sehen. Allerdings sucht nicht einmal jeder neunte deshalb einen Arzt auf. Die meisten von Höhenschwindel gepeinigten Menschen nehmen es offenbar als schicksalhaft hin, wenn sie Probleme mit Türmen, Klippen und Sesselliften haben.

"Die Augen beißen sich quasi am Horizont fest"

Bereits am Ende der 1970er-Jahre hat Brandt mit Versuchspersonen auf dem Rohbau des neuen Rathauses in Essen experimentiert. In mehreren Stockwerken wurden die Körperschwankungen der freiwilligen Probanden gemessen und deren subjektives Empfinden abgefragt. So zeigte sich unter anderem, dass die Pein der Betroffenen in einer Höhe von 20 bis 30 Metern bereits ihr Maximum erreicht. Empfindliche müssen also nicht in der Eiger-Nordwand biwakieren, um das volle Maß ihres Höhenschwindels (WH) zu spüren. Wenig verwunderlich, lindern zudem Hinknien, Sitzen oder gar Liegen das subjektiv empfundene Maß der Verunsicherung.

28 Prozent

aller Menschen klagen über Höhenangst. Frauen etwas häufiger als Männer. Aber nur jeder neunte Betroffene meldet sich deshalb bei einem Arzt. Die meisten nehmen es als Schicksal hin, wenn sie steile Klippen, Brücken oder das Sitzen in einem Riesenrad schwer oder gar nicht ertragen können. Circa vier Prozent aller Menschen entwickeln sogar eine handfeste Angststörung.

Die Schwankungen des Körpers nehmen deutlich zu. Der Rücken wird zu einem Besenstiel

In jüngerer Zeit hat Brandts Arbeitsgruppe die Experimente verfeinert und in Zusammenarbeit mit einem Physiker eine Spezialbrille entwickelt, um die Augenbewegungen von Probanden zu verfolgen. Auf einem rund 20 Meter hohen Fluchtbalkon im Münchner Klinikum Großhadern konnte so im Detail ermittelt werden, wie Menschen mit unterschiedlich stark ausgeprägter Höhenangst im Angesicht eines Abgrunds reagieren. "Die meisten Betroffenen blicken dabei in die Weite, ihre Augen beißen sich quasi am Horizont fest", berichtet Brandt. Die Kopfbewegungen nahmen deutlich ab, der Körper versteifte sich zu einem Besenstil.

"Unter solchen Reizbedingungen sind die Körperschwankungen messbar vergrößert", warnt Brandt, "dass eine reale Fall- oder Absturzgefahr besteht." In den Bergen kann die natürliche körperliche Reaktion zur Katastrophe führen. Wer nach oben oder in die Ferne starrt und nicht mehr auf das Gelände vor den Füßen blickt, kann auch nicht mehr sicher auftreten. Gefährlich wird es demnach auch, wenn Höhenunempfindliche an einer ausgesetzten Stelle durch das Fernglas blicken. Die visuelle Rückkopplung führt unweigerlich dazu, dass die Körperschwankungen zunehmen und der Mensch ins Schwanken gerät.

Schwer tut sich die Forschung allerdings noch mit dem Grenzbereich zwischen einer Höhenintoleranz, also dem unangenehm empfundenen Schwindel, und einer handfesten Phobie. Wissenschaftlich ist nicht untersucht, ob der Höhenschwindel stets einer Angststörung vorausgeht und das Problem sich sozusagen kaskadenartig verschärft. Thomas Brandt vermutet hier durchaus einen Zusammenhang. Gleichzeitig könne man beides nicht klar trennen, betont er, der Übergang vom Schwindel zur Angststörung sei graduell. Sicher ist, dass jede Panikreaktion die "Knie weich macht" und die Standsicherheit verringert, was wiederum den Schwindel verstärkt.

Interessant ist bei Menschen, die phobisch auf einen Abgrund reagieren, ein markanter Unterschied zu anderen Angststörungen: Während jene, die zum Beispiel auf Spinnen panisch reagieren, den Feind offensiv anstarren (womöglich um sicherzugehen, dass die Bedrohung nicht näherkommt), vermeiden Höhenängstliche penibel den Blick in den Abgrund.

Kletterwände im Kindergarten könnten vorbeugen

Hinzu kommt eine unüberschaubare Vielfalt an Reaktionen und Symptomen. Manche Menschen fühlen sich plötzlich auf irrationale Weise von einem Abgrund angezogen, so als würde dieser Sogwirkung entfalten. Andere können problemlos von einem geschlossenen Fenster aus in die Tiefe blicken, geraten aber in Panik, sobald man es öffnet. Bekannt ist auch das Phänomen, bei dem Höhenängstliche anderen nicht beim Klettern zusehen können - auch wenn sie selbst nicht am Abgrund stehtn. "Und manchmal reagiert ein und derselbe Mensch auf verschiedene Reize völlig unterschiedlich", sagt Brandt. Es kommt vor, dass jemand im Riesenrad in Panik gerät, aber entspannt mit dem Sessellift fährt.

Als präventive Maßnahme empfiehlt Thomas Brandt, in Kindergärten und Grundschulen Kletterwände aufzustellen, um Menschen bereits im Kindesalter mit dem Phänomen der Höhe vertraut zu machen. Hat sich im späteren Leben einmal eine handfeste Höhenangst entwickelt, hilft allenfalls noch eine langwierige Verhaltenstherapie. Ähnlich wie bei Maßnahmen gegen die Flugangst, nähert man sich dem Problem dabei schrittweise. Zum Beispiel indem man sich eine Bergwanderung zunächst vor dem geistigen Auge vorstellt.

Im Jahr 1770 behalf sich so auch der junge Goethe. In Straßburg, wo er als Student weilte, gelang es ihm, seine Höhenangst zu besiegen. Mit weichen Knien erklomm er viele Male den Turm des gotischen Münsters. Auf einer Plattform zwang er sich, in die Tiefe zu starren. "Dergleichen Angst und Qual", schrieb er, "wiederholte ich so oft, bis mir der Eindruck ganz gleichgültig ward."

Eine anerkannte medikamentöse Therapie gegen die Akrophobie gibt es nicht. Es wurden zwar Versuche unternommen mit einem Wirkstoff, der Angstrezeptoren im Mandelkern und im präfrontalen medialen Cortex des Gehirns ansprechen soll. Patienten, die daraufhin per virtueller Realität in die Höhe verfrachtet wurden, reagierten etwas weniger ängstlich. Doch das war kein Effekt von Dauer. Zudem sind die Risiken unklar. Womöglich wird nicht nur die Höhenangst gedämpft, sondern das Risikobewusstsein generell - in den Bergen ein Unding.

Festgestellt wurde auch, dass höhenintolerante Menschen etwas häufiger an Migräne leiden als andere. Erhöhter Alkoholkonsum, bei manchen Angststörungen ein bekannter Verstärker, scheint jedoch keine Rolle zu spielen. Dass es auf diesem Gebiet noch viel zu erforschen gibt, mag überraschen, angesichts eines derart weit verbreiteten Leidens, das bereits in der antiken Mythologie aufscheint. Perdix, ein Neffe des Erfinders Daidalos löste bei seinem Onkel Neid aus, nachdem er unter anderem den Zirkel erfunden hatte. Der gekränkte Daidalos stürzte Perdix von der Akropolis. Doch Göttin Athene fing ihn auf und verwandelte den jungen Erfinder in ein flugfähiges Lebewesen, ein Rebhuhn (lateinisch: perdix). Von Höhenangst geplagt erhebt sich dieses Tier seither nicht mehr weit vom Boden.

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