Süddeutsche Zeitung

HIV:Vereinfachte Botschaften schaden dem Kampf gegen Aids

Viele Deutsche haben vergessen, wie gefährlich Aids ist. Kondome und die ewige Werbekampagne "Mach's mit" allein sind keine Lösung.

Ein Kommentar von Kathrin Zinkant

Es ist ein stiller Skandal, der einen von den Plakaten anlacht: "Mach's mit", die ewige Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gegen HIV und Aids - 2015 ist sie in eine neue Runde gegangen und feiert damit ihren 22. Geburtstag. Dabei liegt auf der Hand, wie unverantwortlich es ist, dieses überlebte Konzept weiter fortzusetzen.

Das Ziel, die Öffentlichkeit zu erreichen, verfehlt es nämlich grandios. Nur zwölf Prozent der Deutschen machen sich heute noch über sexuell übertragbare Krankheiten Gedanken. Nur sechs Prozent sehen einen Grund, mit dem Partner darüber zu reden. Und da geht es nicht mal um HIV und Aids im Speziellen. Sondern grundsätzlich um die Frage, ob man sich denn was einfangen könnte.

Das darf nicht so bleiben. Denn HIV ist nicht Vergangenheit. Und die Zeiten, in denen Safer Sex mit Kondomen als Kernstrategie des Anti-Aids-Kampfes noch plausibel war, sind vorbei. Seit ihrem Beginn in den achtziger Jahren haben sich weltweit 72 Millionen Menschen infiziert, die Hälfte von ihnen lebt heute mit dem Virus. Der Erreger ist nicht von der Bildfläche verschwunden, wie man gehofft hatte, er hat sich darin festgesetzt. Und das ist gefährlich.

Kondome schützen zwar, sie bleiben wichtig. Aber sie können diese Situation allein nicht bewältigen. Auch "mehr Geld", wie es zum Welt-Aids-Tag von NGOs wie ONE e. V. gefordert wird, ist zwar hilfreich, wird aber nicht ausreichen, um die fortlaufende Verbreitung des Virus endlich zu stoppen. Genauso wenig verfängt ein Verweis auf die fortschrittlichen Arzneien, mit denen sich eine HIV-Infektion heute kontrollieren lässt - weshalb das Problem ja vielen als gelöst erscheint. Schließlich kann sich hierzulande behandeln lassen, wen der Erreger erwischt.

Nein, so einfach ist das nicht. Es muss in die Köpfe aller, gerade in den fortschrittsverwöhnten Industrienationen: Medikamente allein sind keine Lösung. Sie sind Waffen, die im Kampf gegen eine Seuche helfen können. Aber sie müssen verantwortungsvoll und zielgerichtet eingesetzt werden. Im Fall von HIV ist das besonders wichtig zu verstehen.

Jeder unbedachte Einsatz der heute verfügbaren Medikamente kann dafür sorgen, dass die Arzneien ihre Wirkung verlieren. Und jede Therapie ist nur dann effizient und kann eine Ansteckung weiterer Menschen verhindern, wenn die Infektion sofort erkannt und umgehend behandelt wird. Im Prinzip zählt dabei jeder Tag. Verspätungen sind und bleiben ein Spiel mit dem Tod, und dieses Spiel spielt jeder, der das Thema nicht ernst nimmt.

Je länger der Erreger ungehemmt im Körper wüten kann, desto eher kann er das Immunsystem auf Dauer doch noch ausschalten und das tödliche Vollbild der Erkrankung auslösen: Aids. Das gilt nicht nur für jene Menschen südlich der Sahara oder in Osteuropa, die schon jetzt erfahren, wie hartnäckig und zerstörerisch das Virus ist. Sondern auch für die Menschen in Deutschland, die es vergessen haben.

Denn ja, HIV lässt sich behandeln und die Zahl der Neuinfektionen ist in der Bundesrepublik immer noch gering. Trotzdem ist das Virus eine Gefahr für jeden Körper. Und die Ziffer jener, die der Erreger ansteckt, steigt seit 15 Jahren an und hat sich seither verdoppelt. Man muss kein Epidemiologe sein, um zu wissen, wie schnell die Ignoranz solche übersichtlichen Zahlen explodieren lassen kann.

Osteuropa ist Nachbar. Afrika kein fremder, unerreichbarer Kontinent mehr. Das wussten die Deutschen noch ganz gut, als Ebola dort ausbrach. Das HI-Virus verhält sich zwar anders als der hochansteckende Keim, ist dafür aber noch unberechenbarer - und es bleibt eine Seuche.

Es liegt in der Verantwortung eines jeden, sich dafür zu interessieren. Und es liegt in der Verantwortung von Wissenschaft und Politik, die Bevölkerung über solche Gefahren aufzuklären, aktiv für umfassende, dem aktuellen Sachstand entsprechende Informationen zu sorgen. Über die Wege der Ansteckung, die Bedeutung des Therapiebeginns, die Möglichkeiten, sich zu schützen - auch jenseits des Kondoms. Fortlaufend. Bis die Epidemie eines Tages wirklich bewältigt ist.

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