Süddeutsche Zeitung

Hebammen:Geburten mit unbeschränkter Haftung

Ein Zuschlag sollte von Juli an die hohen Versicherungskosten für Hebammen abfedern. Nun gibt es doch kein Geld, und weitere Hebammen ziehen sich aus der Geburtshilfe zurück.

Von Kim Björn Becker

Vor der Geburt ihres zweiten Kindes war für Sophie Hölle, 28, die Sache ziemlich klar. Diesmal sollte das Baby keinesfalls im Kreißsaal einer Klinik zur Welt kommen, sondern zu Hause, in gewohnter Umgebung. Paul, ihr erstes Kind, wurde vor gut drei Jahren in einem Münchner Krankenhaus geboren. "Diese Erfahrung brauchte ich nicht noch mal", sagt Hölle. Hektisch sei es damals zugegangen, die Ärzte hätten sich kaum Zeit für sie genommen. Am Ende, erinnert sich die junge Mutter, habe man ihr so viele Medikamente gegeben, dass sie von der eigentlichen Geburt kaum noch etwas mitbekommen habe. "Das hatte nichts Natürliches mehr." Als sie mit ihrer Tochter Frida schwanger war, wollte sie darum eine Hausgeburt, betreut von einer Hebamme.

Sollte sich Sophie Hölle einmal für ein drittes Kind entscheiden, kann es jedoch sein, dass es für sie gar keine andere Möglichkeit mehr gibt als das Krankenhaus. Seit Jahren sinkt die Zahl der Hebammen, die Hausgeburten betreuen. Viele Freiberuflerinnen beschränken sich inzwischen auf Vorbereitungskurse und die Nachsorge, für die eigentliche Geburt wollen sie die Verantwortung nicht länger tragen.

Die Entwicklung ist zum einen Ausdruck eines kulturellen Wandels, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt hat. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist gestiegen, immer mehr geben daher der Geburt im Krankenhaus den Vorzug. Inzwischen kommen 99 von 100 Kindern, die pro Jahr in Deutschland geboren werden, im Kreißsaal zur Welt. Die sinkende Nachfrage hat die gesellschaftliche Stellung der Hebamme nicht gerade verbessert. "Die Zeiten sind nicht leicht", sagt Susanna Roth, 57. Die Münchnerin hat vor wenigen Wochen Frida auf die Welt gebracht und arbeitet seit mehr als 30 Jahren in ihrem Beruf. "Wir spüren im Moment den gesellschaftlichen Rückhalt nicht", sagt sie. Den gebe es eben nur von den Frauen, die sie begleiteten. Dass sie Müttern den Wunsch einer Hausgeburt erfüllt, sofern dem keine Risiken entgegenstehen, ist für sie selbstverständlich.

Die Versicherungsbeiträge sollen auf mehr als 6000 Euro im Jahr steigen

Doch auch Susanna Roth hat zu kämpfen, obwohl sie mit etwa 30 Geburten pro Jahr eine vergleichsweise gut ausgelastete Hebamme ist. Insbesondere setzt die Entwicklung der Prämien für Haftpflichtversicherungen viele Geburtshelferinnen unter Druck. Für Freiberufler ist der Abschluss einer solchen Versicherung obligatorisch. Nach Angaben des Deutschen Hebammenverbands (DHV) lagen die Beiträge im Jahr 2003 noch bei knapp 500 Euro jährlich, zuletzt betrugen sie im Mittel 5091 Euro. An diesem Mittwoch steigen die Prämien nun erneut um bis zu 23 Prozent auf durchschnittlich 6274 Euro.

Experten führen diese Entwicklung vor allem darauf zurück, dass Gerichte den Familien im Schadensfall deutlich mehr Geld zusprechen als früher. Kommt ein Kind aufgrund eines Fehlers der Hebamme behindert zur Welt, muss die Versicherung üblicherweise neben den Behandlungskosten auch den lebenslangen Verdienstausfall zahlen. Hinweise darauf, dass Hebammen mehr Fehler machen als früher, gibt es indes nicht.

Von den schätzungsweise 16 000 selbständigen Hebammen im Land arbeitet derzeit Schätzungen zufolge etwa jede Vierte in der Geburtshilfe, das sind bundesweit höchstens 4000. Jene, die sich nur auf Vor- und Nachsorge konzentrieren, sparen pro Jahr Tausende Euro an Versicherungsprämien, da sie für die Geburt nicht mehr verantwortlich sind. Um dennoch möglichst viele Hebammen in der Geburtshilfe zu halten, brachte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) im vergangenen Jahr ein Gesetz durch den Bundestag, in dem ein sogenannter Sicherstellungszuschlag vorgesehen war. Dieser sollte Hebammen mit wenigen Geburten (und folglich geringem Einkommen) dabei helfen, die hohen Prämien auch weiterhin aufzubringen.

Im Gegenzug sollten sich die Hebammen verpflichten, bestimmte Qualitätsanforderungen zu erfüllen. Der Zuschlag sollte von diesem Mittwoch an ausgezahlt werden, die Details sollten die Berufsverbände der Hebammen und der Spitzenverband der Krankenkassen vorher ausmachen. Allerdings gerieten die Verhandlungen ins Stocken, eine Einigung gibt es noch immer nicht. Vor allem in der Frage, wann Mütter einen Arzt hinzuziehen müssen, sind die Verbände zerstritten. Anders als vom Gesetzgeber vorgesehen, müssen die betroffenen Hebammen von diesem Tag an die höheren Prämien also bis auf Weiteres alleine zahlen, ohne dafür eine Unterstützung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sollen allein im Juni 150 Hebammen die Geburtshilfe aufgegeben haben, heißt es beim DHV. Im Monat Juli erwarte man eine weitere "große Beendigungswelle".

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Arbeitsbedingungen der Hebammen verschlechtern. Als im 19. Jahrhundert die Geburtshilfe zum Pflichtfach für angehende Ärzte wurde, sank ihre Bedeutung mit einem Mal - und damit auch die Entlohnung. 1938 beschlossen die Nationalsozialisten das Reichshebammengesetz, damit stärkten sie die Bedeutung der Geburtshelferinnen wieder, da fortan bei jeder Geburt eine Hebamme anwesend sein musste. Allerdings banden die Nazis die Arbeit der Geburtshelferinnen an die Ideologie des Regimes - kam ein Kind behindert auf die Welt, musste die Hebamme es melden.

Heute ist die Frage, ob ein Kind zu Hause oder im Kreißsaal geboren wird, längst keine Frage der Ideologie mehr, sondern allenfalls der Weltanschauung. Manche Eltern gehen das Risiko ein, dass bei plötzlichen Komplikationen kein Arzt anwesend ist, andere nicht. Ob es für Mütter wie Sophie Hölle weiterhin Angebote geben wird, hängt auch von den aktuellen Verhandlungen ab. Elternaktivisten sehen bereits die freie Wahl des Geburtsortes in Gefahr und Schwangere somit in ihren Rechten eingeschränkt.

Im Streit um die Modalitäten des Sicherstellungszuschlags hat der GKV-Spitzenverband Ende Juni die Schiedsstelle angerufen. Katharina Jeschke, Verhandlungsführerin des DHV, nannte die "Hinhaltetaktik des GKV-Spitzenverbands" in den Verhandlungen "unerträglich". Die Kassen konterten, die Verbände hätten "im Juni überhaupt nicht für weitere Verhandlungen zur Verfügung gestanden".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2544647
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.07.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.