Haltungsschäden bei Kindern:Die Mär vom zu schweren Ranzen

Am Donnerstag beginnt in Bayern das neue Schuljahr - und vermutlich auch die Klage vom viel zu schweren Schulranzen. Doch der immer wieder zitierte Richtwert für das Gewicht des Ranzens ist 100 Jahre alt - und entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Worauf Eltern zum Schulanfang achten sollten, erläutert ein Orthopäde.

Berit Uhlmann

Eduard Schmitt ist stellvertretender Direktor der Klinik für Orthopädie an der Universität des Saarlandes und beschäftigt sich seit Jahren mit Haltungsschäden bei Kindern.

Kinder im Straßenverkehr, 1931

Die Norm für das Gewicht von Ranzen ist heute noch die gleiche wie 1931, als dieses Foto entstand.

(Foto: SCHERL)

Süddeutsche.de: Die meisten Eltern machen sich lange Gedanken um den richtigen Schulranzen und geben viel Geld für das neueste Modell aus, um ihrem Kind Rückenprobleme zu ersparen. Ist das nötig?

Eduard Schmitt: Das Wichtigste ist, dass der Ranzen dem Kind passt. Er sollte am Rücken anliegen und nicht oben oder unten abstehen. Oben sollte er mit den Schultern des Kindes abschließen, nach unten sollte er so kurz sein, dass er nicht auf dem Po des Kindes hängt. Ob der Ranzen passt, ist aber keine Frage des Preises oder Designs. Auch günstige Ranzen können diese Anforderung erfüllen.

Süddeutsche.de: Packen Eltern und Kinder dann den Ranzen, haben sie fast immer das Gefühl, dass der Ranzen viel zu schwer ist. Stimmt ihr Eindruck?

Schmitt: Das ist eine Annahme, die man nur schwer aus den Köpfen der Eltern und auch der Behörden herausbekommt. Noch heute existiert in Deutschland eine DIN-Norm, die besagt, der Ranzen dürfte nicht mehr als zehn Prozent des Körpergewichtes wiegen. Diese Norm stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und bezog sich ursprünglich auf die Tornister der Soldaten. Militärangehörige aber mussten Gewaltmärsche von 20 und mehr Kilometern hinnehmen. Mit den Belastungen von Schulkindern ist dies nicht zu vergleichen. Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Untersuchung, die diesen willkürlichen Wert von zehn Prozent bei Schulranzen stützt.

Süddeutsche.de: Wie schwer darf ein Ranzen denn nun sein?

Schmitt: Wir haben untersucht, wie sich das Gewicht des Ranzens auf die Muskulatur auswirkt. Wog der Ranzen 17 Prozent vom Körpergewicht eines Kindes, war kein wesentlicher Effekt auf die Muskelspannung im Rücken festzustellen. Erst ab einem Wert von 30 Prozent des Körpergewichtes wurde die Rückenmuskulatur merklich aktiviert. Dies könnte auf Dauer zu Überlastung führen. Wir gehen davon aus, dass der Ranzen bis zu 20 Prozent des Körpergewichtes wiegen kann, ohne dass irgendwelche Schäden zu befürchten sind.

Wie sinnvoll teure Tische und Sitzbälle sind

Süddeutsche.de: Und was ist mit den Möbeln, brauche ich einen speziellen Kinder-Schreibtisch oder kann ich mein Kind auch an den Küchentisch setzen?

Schmitt: Gute Möbel sind durchaus zu empfehlen. Der Tisch sollte mitwachsen und die Platte nach Möglichkeit um 15 Grad geneigt sein. Dann muss das Kind den Kopf weniger stark senken und entlastet so die Halswirbelsäule.

Der Stuhl sollte ebenfalls höhenverstellbar sein. Die Lehne sollte gut am Rücken anliegen und so die Lendenwirbelsäule abstützen. Moderne Stühle haben eine bewegliche Sitzfläche. Auf ihr sind die Schüler ständig, aber kaum merklich in Bewegung, wodurch die Muskulatur aktiviert und die Durchblutung angeregt wird. Starre Sitze ermöglichen dagegen nur eine Sitzhaltung: Das Becken kippt nach hinten ab und zieht die Wirbelsäule in eine sogenannte Rundrückenhaltung. Das Kind sitzt dann auffällig krumm.

Süddeutsche.de: Was ist so schlimm am krummen Sitzen?

Schmitt: Bei Kindern wachsen die Wirbelkörper noch und reagieren sehr empfindlich auf einseitige Belastung. Sitzt ein Kind täglich über lange Zeit nach vorn gebeugt, werden vorwiegend die vorderen Abschnitte der Wirbelkörper belastet. Dadurch wachsen sie an dieser Stelle nicht mehr, hinten wachsen sie jedoch weiter. Das heißt, die Wirbel werden keilförmig, es entwickelt sich zunehmend ein Rundrücken. Das kann zu einem Haltungsschaden führen, der nicht mehr zu beheben ist.

Süddeutsche.de: Wie sinnvoll sind Sitzbälle?

Schmitt: Zum längeren Sitzen sind sie ungeeignet. Es kostet zu viel Kraft, die Balance zu halten. Bein- und Rückenmuskeln werden dann schnell überlastet. Kurzzeitig können Kinder damit allerdings ihr Gleichgewicht schulen.

Süddeutsche.de: Dann kaufe ich also wirklich gute Möbel und bin auf der sicheren Seite, was den Rücken betrifft?

Schmitt: Nein, der beste Stuhl ist der, auf dem man nicht sitzt. Sitzen ist die ungünstigste Haltung überhaupt. Dass Wichtigste ist, Kinder zur Bewegung zu animieren. Das kommt leider zunehmend zu kurz, weil Kinder mittlerweile viel Freizeit vor dem Computer verbringen.

Süddeutsche.de: Welche Art von Bewegung ist am besten geeignet?

Schmitt: Jede Art. Es fängt schon mit dem Gang zur Schule an. Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die - auch mit dem vermeintlich zu schwerem Ranzen - zur Schule laufen, weniger Rückenschmerzen als Kinder, die mit dem Bus fahren oder mit dem Auto gebracht werden. Ansonsten sollten Kinder in der Freizeit einfach raus ins Freie gehen und herumtollen oder Rad fahren. Auch Sportvereine sind eine gute Möglichkeit, sich zu bewegen. Es muss aber gar kein teurer Kurs sein, und schon gar keiner, zu dem das Kind über lange Strecken mit dem Auto gefahren werden muss.

Süddeutsche.de: Können Eltern erkennen, wenn ihr Kind Haltungsschäden entwickelt?

Schmitt: Ja, die Kinder haben dann das, was der Laie als "schlechte Haltung" bezeichnet: Der Kopf hängt nach vorn, die Brustwirbelsäule ist gebeugt, so dass die Schultern nach vorn fallen und die Schulterblätter hervorstehen. Man spricht auch von "Engelsflügeln". Bemerken Eltern diese Haltung, sollten sie schnell für mehr Bewegung zu sorgen.

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