Großbritannien:Gesundheitsrisiko Brexit

FILE PHOTO:  A man sits on a bus with an advertisement for Britain's National Health Service (NHS) in London

Ein Bus wirbt für den Gesundheitsdienst NHS. Im vergangenen Jahr tourten Brexit-Verfechter mit einem Bus durchs Land, der mehr Geld für den NHS in Aussicht stellte.

(Foto: REUTERS)

Die Gesundheitsversorgung wurde einst als Gewinner des britischen EU-Austritts gehandelt. Nun zeigt sich, sie könnte ein großer Verlierer werden - nicht nur in Großbritannien.

Von Berit Uhlmann

Gerade erst hat die Europäische Union ein Vorzeigeprojekt gestartet: Seit März teilt die Gemeinschaft all ihre Erfahrungen in der Behandlungen seltener Erkrankungen. Es geht um ungewöhnliche Krebsfälle oder um Beschwerden von Neugeborenen, die Ärzte sich nicht erklären können. Manche dieser Leiden sind so rar, dass in einem einzelnen Land zuweilen nur ein Dutzend Fälle auftreten. Viel zu wenige, als dass Mediziner Erfahrungen sammeln, geschweige denn Studien mit genügend Aussagekraft organisieren können. Bringt man nun all diese verstreuten Fälle, all die Einzelerkenntnisse über die Landesgrenzen hinweg zusammen, kann Fortschritt entstehen - so die Überlegung.

So bestechend vernünftig der Plan auch ist, in der allgemeinen Krisenstimmung ging er weitgehend unter. Denn die EU wird von einer grundsätzlichen Frage dominiert: Wie soll es in Europa nach dem Brexit überhaupt weitergehen? Bei der Behandlung der seltenen Erkrankungen ist Großbritannien noch prominent vertreten, so wie in sehr vielen EU-Gesundheits-Projekten der vergangenen Jahrzehnte. "In den kommenden zwei Jahren arbeiten wir mit Großbritannien wie bisher zusammen", sagt EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis. Und danach? Der Litauer seufzt: "Ich weiß es nicht."

Das Gesundheitssystem werde enorm vom Brexit profitieren, kündigten die Befürworter des britischen Austritts aus der EU einst an. Doch nun tritt wohl das Gegenteil ein. Längst vom Tisch ist die berüchtigte Ankündigung, die freiwerdenden EU-Beiträge in den klammen Gesundheitsdienst NHS zu stecken. Der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt, ein Brexit-Gegner, ist in dem Gremium, das den EU-Austritt koordiniert, nicht vertreten. Und so wird die Befürchtung lauter, die der Londoner Professor für European Public Health, Martin McKee, in einem Artikel für das Journal of Public Health so zusammenfasst: Der Brexit sei ein "wirres Konzept, das die öffentliche Gesundheit bedroht".

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA zählt zu den ersten Einrichtungen, die unmittelbar Folgen des Brexit zu spüren bekommt. Die Behörde mit einem Jahresbudget von 320 Millionen Euro wird aus London wegziehen - und zwar ohne die britischen Wissenschaftler, die derzeit die Arbeit der EMA dominieren. Europa wird damit Expertise verlieren. Schon jetzt berichtet EMA-Direktor Guido Rasi über Personalengpässe. Mitarbeiter verlassen die Agentur, während potenzielle neue Bewerber abwarten.

Deutschland und Österreich bewerben sich als neuer Standort für die EU-Arzneimittelagentur

Als neue Heimat für die Behörde haben sich mehr als ein Dutzend EU-Länder ins Spiel gebracht, darunter Deutschland und Österreich. Entschieden wird frühestens im Juni 2017. Das Zeitfenster für den bis März 2019 geplanten Umzug ist also eng und Rasis größte Sorge. Sollten während der hektischen Umzugsphase Sicherheitsprobleme bei Arzneimitteln zutage treten, könnten die Europäer womöglich nicht schnell genug davor geschützt werden.

Für britische Patienten bedeutet die Trennung von der EMA wahrscheinlich, dass sie künftig länger warten müssen, bis neue Medikamente auch auf ihrem Markt zugelassen sind. Allerdings ist auch denkbar, dass die Briten die Gelegenheit ergreifen, Zulassungsregeln aufzuweichen, wie es derzeit auch in den USA gefordert wird. Der NHS-Chef Simon Stevens entwarf bereits die Vision, durch schnellere Zulassungen den Life-Science-Sektor des Landes zu stärken. Der Gesundheitsminister trifft sich derzeit mit den Chefs der zehn größten Pharma-Unternehmen, um Großbritanniens "starke Position" auf diesem Markt "zu sichern und zu verbessern".

Es braucht kein großes Misstrauen, um anzunehmen, dass die Industrie massiv Einfluss ausüben wird, wenn die Regierung Tausende EU-Gesetze, Richtlinien und Regularien in ein neues nationales Recht überführt. Es ist auch nicht abwegig zu vermuten, dass die Regierung den Interessen der Konzerne nachgeben wird, sollten sich in der Post-Brexit-Ära ökonomische Verluste abzeichnen.

Dabei könnten gerade die von der Wirtschaft ungeliebten Public-Health-Errungenschaften wie Verbraucher- und Arbeitsschutz, Lebensmittelsicherheit und die Standards für saubere Umwelt leiden. Martin McKee hält es für wahrscheinlich, dass die Zigarettenhersteller besonders aktiv werden, wenn die erst im vergangenen Jahr in Kraft gesetzte EU-Tabak-Richtlinie wegfällt. Auch die EU-Standards zur Luft- und Wasserqualität, die schon jetzt nur mäßig eingehalten werden, könnten künftig aufgeweicht werden.

London empfiehlt Forschern, vor dem Austritt noch schnell EU-Fördermittel zu beantragen

Das drängendste Problem aber sind die drohenden Personalengpässe im Gesundheitswesen. Bislang - so drückt es McKee zugespitzt aus - exportiert Großbritannien Hunderttausende teure Rentner in Länder wie Frankreich und Spanien und importiert junge, gesunde und gut ausgebildete Fachkräfte aus den EU-Staaten. Zu ihnen gehören 130 000 Ärzte, Kranken- und Altenpfleger, die der unterbesetzte Gesundheitsdienst dringend benötigt. Zu welchen Bedingungen sie bleiben dürfen, ist unklar. 2700 EU-Krankenschwestern haben das Land 2016 verlassen. Gleichzeitig fiel die Quote der Neuregistrierungen um 90 Prozent. Einer Umfrage der British Medical Association zufolge denken auch 42 Prozent der etwa 10 000 EU-Ärzte über eine Rückkehr in ihre Heimatländer nach.

Keiner dieser Aspekte wird in dem 77-seitigen Brexit-Fahrplan der Regierung auch nur angerissen. Worum sich die Regierung aber sorgt, ist sicherzustellen, "dass Großbritannien der beste Ort für Wissenschaft und Innovation bleibt". Sie fordert Forscher auf, sich noch schnell für Mittel aus dem Programm Horizon 2020 zu bewerben - dem mit 80 Milliarden Euro größten Forschungsfonds in der Geschichte der EU. Für die Zukunft hofft London auf weitere EU-Mittel. Ob die wie bisher fließen, ist ungewiss. Als sich die Schweiz 2014 dafür aussprach, die Einwanderung stark zu begrenzen, stufte die EU-Kommission ihren Status als Wissenschaftspartner herab. Die Schweizer Beteiligung an Horizon-Projekten brach um fast die Hälfte ein.

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