Süddeutsche Zeitung

Ausbleibende Krankheitswelle:Corona bekämpfen, Grippe besiegen

Lesezeit: 3 min

Die Maßnahmen gegen Covid-19 scheinen die Grippe in Deutschland und anderswo fast komplett eingedämmt zu haben. Einen Nachteil könnte der unerwartete Erfolg jedoch haben.

Von Berit Uhlmann

Sie ist normerweise fast schon eine eigene Jahreszeit. Spätestens im Januar beginnt für gewöhnlich die Saison, in der das Land über fiese Erkältungen klagt und - weitaus schlimmer - unter der Grippe leidet. Nicht so in diesem Jahr: "Die Grippewelle ist bisher ausgeblieben", sagte der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) , Lothar Wieler, am Freitag. Von Herbst bis Anfang Februar wurden dem RKI knapp 400 im Labor bestätigte Influenzafälle gemeldet. Im Vorjahreszeitraum gab es fast 100 Mal so viele registrierte Infektionen.

Diesen Trend zeigen auch weitere Indikatoren, mit denen das RKI die aktuelle Grippe-Entwicklung zu erfassen versucht. So nehmen ausgewählte Hausärzte regelmäßig zu statistischen Zwecken Abstriche von Patienten; etwa 2100 Proben kamen seit dem Herbst zusammen. Doch keine einzige von ihnen enthielt bisher Influenzaviren. Das ist eine absolute Seltenheit. Seit 1998 wurden in diesen stichprobenartigen Untersuchungen stets Grippeerreger gefunden, und zwar spätestens in der ersten Januarwoche. Auch die Zahl der Atemwegserkrankungen insgesamt ist aktuell um ein Mehrfaches geringer als in den Vorsaisons - "auf einem vorher nie erreichten, niedrigen Niveau", wie das RKI schreibt.

Diese Entwicklung wird in ganz Europa beobachtet. Die Grippesaison hätte auf dem Kontinent längst beginnen müssen, heißt es von Seiten der europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC. Doch die Fallzahlen bleiben ungewöhnlich niedrig. Die Weltgesundheitsorganisation WHO meldet für die gesamte Nordhalbkugel eine unterdurchschnittliche Grippeaktivität. Dass die Influenza in diesem Winter noch heftig zuschlägt, gilt als unwahrscheinlich.

Die wenigen Infizierten reichten nicht, um die Viren weitflächig zirkulieren zu lassen

Denn auch in der südlichen Hemisphäre fiel die zurückliegende Grippewelle praktisch aus. So befanden sich Australiens Influenzazahlen 2020 auf einem "Allzeittief", wie Wissenschaftler des Landes im Fachblatt Euro Surveillance bilanzierten.

Diese globale Entwicklung ist kein Zufall. Im Grunde wurde die weltweite Zirkulation der Influenzaerreger schon im Frühjahr 2020 ein gutes Stück ausgebremst, als die beginnende Corona-Pandemie viele Länder veranlasste, die Grenzen zu schließen und Reisen zu erschweren. Somit wurden im Herbst relativ wenige Influenzafälle von der Südhalbkugel in den globalen Norden eingeschleppt. Die weiteren Maßnahmen - von Lockdown über Schulschließungen bis Masken - sorgten dann dafür, dass "sich keine kritische Masse von Influenza-Infizierten bilden konnte", sagt Silke Buda, Grippeexpertin am RKI. Die wenigen Infizierten reichten nicht, um die Viren weitflächig zirkulieren zu lassen und damit eine größere Welle auszulösen.

Dass die Interventionen gegen die saisonale Influenza besonders gut wirken, ist plausibel. Ihre Basisreproduktionszahl R₀ liegt bei etwa 1,3. Jeder Infizierte steckt also im Schnitt nur etwas mehr als einen anderen Menschen an. Schon eine Verringerung von engen Kontakten um ein Drittel kann den Wert deutlich unter 1 drücken und die großflächige Verbreitung der Erreger verhindern. Für Sars-CoV-2 mit seinem vergleichsweise hohen R₀ um 2,5 braucht es größere Anstrengungen.

Ein weiterer Grund für das Ausbleiben der Influenzawelle ist der Schutz durch die Grippeimpfung. "Es haben sich wahrscheinlich während der Pandemie so viele Menschen gegen Grippe impfen lassen wie nie zuvor", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). In diesem Herbst wurde besonders für Immunisierungen geworben, es wurden fünf Millionen mehr Dosen als in der Vorsaison geordert. Dennoch standen insgesamt nur 26 Millionen Dosen zur Verfügung. Da das Vakzin oft nur eine Wirksamkeit zwischen 40 bis 60 Prozent hat, dürfte die Impfung allein den drastischen Rückgang der Zahlen nicht erklären.

Eine Erklärung für die sehr niedrigen Zahlen könnte auch sein, dass ein Teil der Grippefälle nicht ausreichend erfasst wird. Etwa weil Menschen im Lockdown seltener zum Arzt gehen, weil Mediziner eher Covid- und weniger Influenza-Tests anordnen und die Kapazitäten für die Grippeüberwachung mitten in der Pandemie nicht mehr ausreichen. In vielen Ländern Europas dürfte dies der Fall sein, warnt die ECDC. Für Deutschland jedoch weist Silke Buda darauf hin, dass das Grippe-Monitoring weiterhin auf hohem Niveau erfolgt.

Der unerwartete Erfolg der Interventionen gegen die Grippe und andere Atemwegserkrankungen hält auch Lehren für die Zukunft bereit. Experten denken bereits darüber nach, einen Teil der Maßnahmen auch unabhängig von der Corona-Pandemie beizubehalten. So riet die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC, einige der gegen das Coronavirus erfolgreichen Schritte künftig zum Schutz von Hochrisikogruppen anzuwenden. Auch Silke Buda hält neben der Impfung Masken, Abstand halten, Händehygiene und regelmäßiges Lüften für Maßnahmen, "die wir möglichst alle auch zukünftig beachten und einhalten sollten".

Einen potenziellen Nachteil hat das Verschwinden der Grippe allerdings, warnen die australischen Forscher in Euro Surveillance: Es zirkulieren so wenige Viren, dass es schwerer wird, abzuschätzen, welche Stämme die kommende Saison dominieren werden. Diese Information aber wird gebraucht, um die Impfstoffe für die nächste Grippewelle so gut wie möglich maßzuschneidern.

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