Millenniumsziele:Fisch für Sex

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Diese schwangere Frau in Uganda wird in einem Gesundheitszentrum untersucht. Längst nicht alle Frauen in der Region haben Zugang zu medizinischer Betreuung. (Foto: AFP)

Die Welt hat sich vor 15 Jahren ein großes Ziel gesetzt: Die Gesundheit und Lebensbedingungen von Frauen zu verbessern. Ist es gelungen? Ein Besuch in Uganda.

Von Felix Hütten

Prossy Atiku will sich und ihrem Kind das Leben nehmen. In der Gesundheitsstation haben die Pfleger einen Test mit ihrem Blut gemacht, eine Routineuntersuchung. Atiku, die in Wahrheit anders heißt, ist schwanger. Und HIV-positiv. Die 18-Jährige hat das Virus in ihrem Blut und ein Kind im Bauch. "Was ist, wenn auch das Kind infiziert ist", fragt sie sich. Wenn jemand davon erfährt? Sie denkt an Abbruch und Suizid.

Um zu Atiku zu kommen, geht es vorbei an ausrangierten Autofelgen, in denen Frauen Feuer machen für das Mittagessen. Das Hupen der Mopedfahrer verstummt irgendwann, draußen, vor den Stadttoren von Ugandas Hauptstadt Kampala. Ostafrika, 35 Grad im Schatten, roter Sand am Straßenrand. Irgendwo hier ist die Gesundheitsstation, wo junge Menschen wie Atiku Hilfe suchen. Sie kommen oft zu Fuß oder mit Sammeltaxis, kilometerweit aus ihren Dörfern. Hilfsorganisationen spenden, doch das Geld reicht nicht. Frauen entbinden auf zerrissenen Liegen, Putz blättert von der Decke, es gibt kein fließend Wasser. Liegt ein Kind quer im Bauch der Mutter, können die Pfleger nur beten, dass das Wetter hält. Regnet es, verwandeln sich die Straßen zum nächsten Krankenhaus in Schlammpisten. Die Schlaglöcher sind tief, einen Rettungswagen gibt es nicht. Immer wieder drohen Frauen zu verbluten.

Sie will kämpfen, gegen das Virus, das sie eines Tages vielleicht töten wird

Atiku trägt ein grünes Hemd aus Polyester und einen schwarzen Rock. Sie hat keine Ausbildung, keinen Job, kein Geld. Sie bringt sich nicht um, nach dem Test. Sie denkt an ihr Kind. "Ich will kämpfen", sagt sie. Gegen dieses Virus in ihrem Blut, das ihr Immunsystem angreift, das sie eines Tages vielleicht töten wird. Atiku fragt sich, ob sie stark genug dafür ist. Die Mediziner fragen sie: Woher kommt das Virus? Politiker fragen sich: Wie können wir Frauen wie Atiku helfen?

15 Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen in New York die Millennium-Entwicklungsziele verabschiedet haben. Es war ein historischer Moment, damals im September 2000. Noch nie in der Geschichte konnten sich Staaten auf einen solch umfassenden Katalog einigen, der das Leben von Millionen Menschen verbessern sollte - das Leben von jungen Frauen wie Atiku aus Uganda, die unter Ausbeutung und Armut leiden, unter religiösen Eiferern, Hunger und sexueller Gewalt.

Um zu verstehen, um was es bei den Entwicklungszielen geht, lohnt sich ein Blick auf Uganda. Das Land am Nordufer des Victoriasees ist eines der kinderreichsten der Welt, beinahe die Hälfte der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre. Viele sind tiefgläubig, etwa 85 Prozent sind Christen. Kinder, so lernen es hier die jungen Menschen in der Kirche, sind ein Geschenk Gottes. Wer denkt da an Verhütung?

Schon damals, im Jahr 2000, erkannten die Vereinten Nationen, dass Frauen weltweit besonders benachteiligt sind in der Gesundheitsversorgung. Frauen werden häufiger Opfer von sexueller Ausbeutung und leiden häufiger unter Geldnot als Männer. In der Wissenschaft ist von einer Feminisierung der Armut die Rede. Auch deshalb widmen sich drei der acht Millenniums-Ziele der Frauengesundheit. Punkt 3 der Agenda: Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen. Punkt 4: Senkung der Kindersterblichkeit. Und Punkt 5: Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern. Bis zum Jahr 2015 sollten die Ziele erreicht sein.

In einer im Juni im Fachjournal The Lancet veröffentlichten Studie zieht ein Forscherteam um die Kinderärztin Ana Langer von der Harvard School of Public Health nun Bilanz. Das Ergebnis: Es steht schlecht um die Gesundheit der Frauen auf der Welt. Die Frauen-Millenniumsziele wurden nicht erreicht, noch immer leiden Millionen Frauen auf der ganzen Welt. Diese Einschätzung ist richtig - und doch nicht die ganze Wahrheit.

Die Wissenschaftler weisen in ihrer Studie darauf hin, dass häufige Todesfälle von Frauen, wie zum Beispiel Hunger oder Viruserkrankungen, zwischen 2000 und 2013 um ein Fünftel gesunken sind. Ein beachtlicher Fortschritt. Wer hätte es vor 15 Jahren für möglich gehalten, dass junge Frauen wie Atiku in Uganda einmal kostenlose HIV-Medikamente bekommen?

Gleichzeitig sterben in armen Ländern noch immer Tausende Frauen an Unterernährung, Infektionen oder bei der Geburt eines Kindes. In den Ländern südlich der Sahara sind dies weiterhin die häufigsten Todesursachen von Frauen. Während in Deutschland bei 100 000 Geburten sieben Mütter sterben, sind es in Uganda 360 Frauen, in Sierra Leone sogar 1100.

Weltweit leiden Frauen unter sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Partnerschaft; der Zugang zu Verhütungsmitteln ist Millionen Frauen weiterhin verwehrt. Teenagerschwangerschaften, oftmals nach Vergewaltigungen oder schlicht durch Unwissen, sind ein enormes Problem in Afrika, Asien und Lateinamerika - auch wenn exakte Zahlen dazu fehlen. Eine frühe Schwangerschaft ist nicht nur für die Mutter ein gesundheitliches und finanzielles Risiko - auch die Versorgung des Kindes ist oftmals nicht gewährleistet, sodass Tausende Säuglinge verhungern oder an Infektionskrankheiten sterben.

Steigt man auf einen der Hügel am Stadtrand von Ugandas Hauptstadt Kampala, glitzert in der Ferne der Victoriasee. "Fisch für Sex" - das hört man hier oft. Wer Hunger hat, gibt seinen Körper her. Atiku, die junge Frau mit dem Virus im Blut, hat Sex mit einem Trucker, da ist sie 16. "Ich war verliebt", sagt sie. Der Mann schenkt ihr Kleider, schenkt ihr Geld. Das braucht sie dringend für Essen und für die Schule. Wer nicht bezahlen kann, darf nicht lernen. Vor Kurzem ist der Trucker gestorben. Und in Atiku lebt das Virus.

Die Geschichte von Atiku zeigt, wie stark Armut, Bildung und Gesundheit zusammenhängen. Die Wissenschaftler aus Harvard beklagen in ihrer Studie, dass genau dieses Zusammenspiel zu wenig berücksichtigt wird. Dabei weiß man schon lange: Gesundheit und die Stärkung von Frauenrechten hängen unmittelbar zusammen. Die Gleichung ist so einfach wie logisch: Frauen, die gesund sind, können eher Schreiben und Lesen lernen und haben somit bessere Chancen auf Ausbildung und Beruf. Das wiederum steigert die Chancen auf finanzielle und soziale Unabhängigkeit und kann sexuelle Ausbeutung verhindern. Armut, auch das zeigt die Geschichte Atikus, ist eine der Hauptursachen für die Erkrankung von Frauen: ohne Geld wenig Bildung, dafür aber finanzielle Abhängigkeit, Risikoschwangerschaften - und oft schlicht Hunger.

Das Thema Frauengesundheit müsse deshalb, so die Autoren der Studie, verstärkt in der internationalen Gesundheitspolitik berücksichtigt werden. Denn auch ein zweiter Aspekt zeigt, wie sehr Frauen in der Gesundheitsversorgung benachteiligt werden: Bislang wird zu wenig beachtet, dass Frauen die Gesundheitssysteme ihrer Länder zwar häufiger beanspruchen als Männer - gleichzeitig aber die Hauptarbeit der weltweiten Gesundheitsversorgung leisten. Die Forscher aus Harvard haben dazu in ihrer Studie Gesundheitssysteme in 32 Ländern untersucht, deren Einwohner etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Dort leisteten Frauen im Jahr 2010 Gesundheitsarbeit im Wert von etwa drei Billionen Dollar. Gesundheitsarbeit ist Frauensache, schreiben die Forscher - aber noch immer wird diese Arbeit gar nicht oder nur schlecht bezahlt. "Es ist eine der zentralen Fragen unserer Forschung, warum die Gesundheitssysteme immer wieder die Frauen im Stich lassen - während vor allem Frauen sowohl Patienten als auch Pflegekräfte sind", sagt Ana Langer, die Hauptautorin der Studie.

Eine vollständige Bilanz zu den Millenniumszielen ist schwierig aufzustellen, weil die Daten unvollständig sind. Trotz breit angelegter Studien und Befragungen fehlen in vielen Bereichen der Gesundheitsarbeit belastbare Zahlen. Zwar ist bekannt, dass es in vielen Ländern an Verhütungsmitteln fehlt und weltweit etwa 16 Millionen Frauen mit HIV infiziert sind. Doch wie viele sind es genau? Wie alt sind sie - und wie haben sie sich infiziert?

Ein weiteres Beispiel: Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass jedes Jahr etwa 40 Millionen Geburten weltweit nicht registriert werden. Regierungen und Hilfsorganisationen wissen oft nicht, wo und wann Kinder zur Welt kommen und wie es den Müttern nach der Geburt geht. Die Millenniumsziele haben zwar dazu beigetragen, dass überhaupt Zahlen über den Gesundheitszustand von Frauen weltweit gesammelt werden. Doch die Datenlücken sind riesig. Wissenschaftler beklagen zudem, dass die Wechselwirkungen von Schwangerschaft, Ausbeutung, Schulbildung und Armut noch immer schlecht erfasst werden. Genau diese Daten aber wären wichtige Argumente, um Regierungen zum Handeln zu zwingen. Die Harvard-Autoren sehen Frauengesundheit als einen entscheidenden Faktor für das globale Engagement in Sachen Nachhaltigkeit - weshalb bessere Statistiken nötig seien. "Erst wenn Frauen gesund sind und in allen Bereichen des Lebens gerecht behandelt werden, kann nachhaltige Entwicklung gelingen", schreiben sie in ihrer Studie.

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Genau das wollen die Vereinten Nationen jetzt erreichen. Aus den Millenniums-Entwicklungszielen wurden im Herbst 2015 die Sustainable Development Goals, die Nachhaltigkeitsziele. Insgesamt 17 Punkte für mehr Nachhaltigkeit in allen Weltregionen: Armut, Umweltschutz und Gesundheit stehen dann gemeinsam auf der Agenda aller Nationen der Welt. Punkt 5 des neuen Plans: "Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern erreichen und alle Frauen und Mädchen ermächtigen". Frauengesundheit ist damit weiterhin ein wichtiger Teil im globalen Kampf gegen Armut und Ausbeutung. "Wir müssen hart arbeiten, um sicherzugehen, dass der Fokus auf Frauen- und Mädchengesundheit in den Verhandlungen nicht untergeht", sagt Harvard-Professorin Ana Langer.

Atiku hat wieder Lebensmut, denn ihre größte Angst ist weg

Ihr Ziel ist, dass es Frauen wie Prossy Atiku aus Uganda besser geht, die ohne Ausbildung, mit HIV-Infektion und Kind dringend Hilfe brauchen. Frauen, die nicht nur unter Armut, sondern auch unter Isolation leiden. Wer HIV hat, ist dreckig und gefährlich - so sehen das viele Menschen zum Beispiel in Uganda. Atiku erzählt deshalb niemandem von ihrer HIV-Infektion. Sie hat Angst, verstoßen zu werden, gedemütigt von Freunden und Nachbarn.

Mit dem HI-Virus angesteckt hat sie der Trucker, sagt Atiku, nicht der Vater ihres Kindes. Der ist ein Freund aus der Nachbarschaft, 23 Jahre alt und gerade in Schweden, als Putzkraft. Von dem Virus wisse der Freund nichts, Atiku will mit ihm darüber sprechen, wenn er zurück ist. Wann er zurückkommt, weiß Atiku nicht. Aber er kommt wieder, sie glaubt daran.

So lange will sie warten und jeden Monat in die Gesundheitsstation kommen, um neue HIV-Medikamente zu holen. Ihre Blutwerte sind besser geworden, die Pillen wirken. Sie schluckt die Tabletten für sich - und für ihr Kind: Kisakje, ein Junge. Seit seiner Geburt, sagt sie, glaube sie wieder daran, dass alles gut wird. Denn ihre größte Angst ist weg: Sie hat ihr Kind nicht angesteckt. Kisakje ist HIV-negativ.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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