Süddeutsche Zeitung

Globale Gesundheit:Eine Frau für 143 Millionen Operationen

Magdalena Gründl kommt aus einem kleinen Dorf in der Oberpfalz - und forscht in Harvard zu der Frage, wie man fünf Milliarden Menschen medizinisch versorgt. Die Geschichte einer Weltverbesserin.

Von Felix Hütten

Über den Dingen zu stehen ist für Magdalena Gründl so etwas wie eine Lebensaufgabe geworden, und das ist nicht negativ gemeint. Die 25-jährige Harvard-Forscherin, diese Kombination aus Alter und Elite-Uni muss man ja auch erst mal hinbekommen, sucht das große Ganze, sie will verstehen, wie man die Welt ein Stück besser machen kann. Und deshalb reicht es der Medizinstudentin nicht, einzelne Patienten zu behandeln.

Sie will mit einem Team aus Forschern ein paar Millionen Menschen das Leben retten. Es klingt nach einer Utopie, es ist aber ihr voller Ernst. Und genau deshalb ist Gründl der Blick von oben so wichtig, sie pendelt zwischen Europa, Amerika, Afrika und Asien. Einmal im Monat ein Langstreckenflug, immer Economyclass, die Beine angewinkelt, dieser Blick auf die Welt ist doch auch ganz schön anstrengend.

Magdalena Gründl, aufgewachsen in Pösing in der Oberpfalz, knapp über 1000 Einwohner, ist eine der jüngsten Wissenschaftlerinnen der Welt, die sich mit einer neuen Forschungsrichtung beschäftigen, die eigentlich ein ganz altes Ziel hat: Lebenswichtige Operationen dort anzubieten, wo es sie nicht gibt. Dort, wo Menschen an Blinddarmentzündungen oder einem simplen Knochenbruch sterben, weil sie nicht behandelt werden. Dort, von wo aus Menschen nach Europa fliehen, weil sie ein gesünderes Leben suchen.

Fünf Milliarden Menschen auf der Welt haben keinen Zugang zu sicherer Chirurgie

Global Surgery heißt diese Disziplin, die vor etwa fünf Jahren in Harvard von einem Team um den Chirurgen John G. Meara angestoßen wurde. Globale Chirurgie also, die Idee dahinter ist schnell erzählt: Internationale Gesundheitsorganisationen, die Staatengemeinschaft, aber auch private Geldgeber konzentrieren sich stark auf den Kampf gegen Infektionskrankheiten, allen voran HIV, Malaria, Tuberkulose, die großen drei. Was aber, fragt Gründl, hilft es einem Patienten, den wir gegen Polio impfen, wenn er wenig später bei einem Autounfall ums Leben kommt? Wenn sich ein Bauer den Arm bricht und deshalb die gesamte Ernte eingeht?

Die Zahlen, die Gründl auswendig aufsagen kann, um die Dringlichkeit dieser Fragen zu untermauern, lauten wie folgt: Fünf Milliarden Menschen auf der Welt haben keinen Zugang zu sicherer und kostengünstiger Chirurgie und Anästhesie. 143 Millionen Operationen in weniger wohlhabenden Regionen dieser Welt wären notwendig, um Menschen zu helfen. Knapp 17 Millionen Patienten sind im Jahr 2010 gestorben, weil sie nicht die nötige chirurgische Versorgung bekommen haben. Das entspricht etwa einem Drittel aller Todesfälle weltweit und übersteigt die Zahl der Todesfälle durch HIV, Tuberkulose und Malaria zusammen. Chirurgische Versorgung aber, das ist die These der Global-Surgery-Forschung, spiele in den Debatten um globale Gesundheit keine oder nur eine winzige Rolle. Anders sind diese Zahlen nicht zu erklären.

Magdalena Gründl ist nicht wütend, wenn sie diese Zahlen vorträgt, sie sieht sich nicht zwingend als Aktivistin, mehr als Wissenschaftlerin, die anpacken will. Nach einem Praktikum in einem Krankenhaus in Tansania studiert sie in Rumänien und Deutschland Medizin, bewirbt sich noch vor der Approbation auf ein Stipendium in Boston, wo sie heute Teil eines internationalen Teams von Wissenschaftlern ist, das weltweit Daten sammelt und auswertet.

Phase eins von Gründls Forschungsprojekt lautet nun, genaue Daten zu ermitteln und so zu verstehen, wie es zu der massiven Unterversorgung kommt. In Phase zwei will man, gemeinsam mit der Regierung eines Landes, einen Gesundheitsplan entwickeln, der sich der konkreten Probleme annimmt. Es ist dabei, und das betont Gründl ausdrücklich, immens wichtig, einheimischen Ärzten nicht die Arbeit wegzunehmen und sie zu Zuschauern zu degradieren, wenn mal wieder ein Hilfstrupp aus den USA anrollt. Im Zeitalter der mobilen Datenübertragung, ja in einer globalisierten Welt, liege der Schlüssel in einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe, in gegenseitigen Austauschprogrammen, in Videokonferenzen, die auch Ärzten in entlegenen Regionen helfen.

Immer wieder ist zu hören, dass eine solche Zusammenarbeit das Ziel internationaler Entwicklungszusammenarbeit sein soll. Auf der World Health Assembly, dem Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation, haben die Mitgliedstaaten 2015 eine Resolution mit dem Ziel verabschiedet, die chirurgische Basisversorgung weltweit zu verbessern.

Fragt man Magdalena Gründl nach einer Einschätzung dieser Nachrichten, holt sie erst mal tief Luft. Trotz der Erfolge dominiere bei vielen Ärzten und Gesundheitsministern noch immer die Vorstellung, dass die Investition von einem Dollar in Prävention deutlich mehr bringe als ein Dollar in kurative Medizin. Impfkampagnen, um es konkret zu machen, seien nun mal deutlich einfacher zu organisieren, als Krankenhäuser und Straßen zu bauen, Ärzte und Pfleger auszubilden und langfristig gut zu bezahlen. Dabei sind Krankheitsbilder, die einen chirurgischen Eingriff brauchen, leicht und günstig zu behandeln - vergleicht man einen gebrochenen Arm mit HIV oder Diabetes.

Dennoch liegt der Fokus woanders, ist sich Gründl sicher. Und tatsächlich taucht das Wort "Chirurgie" in der Agenda der UN-Millenniums-Entwicklungsziele nicht auf - während der Kampf gegen HIV und Malaria ausdrücklich erwähnt wird. Mittlerweile haben die Vereinten Nationen die sogenannten "Ziele für nachhaltige Entwicklung" vereinbart, doch auch in den aktuellen Statuten ist der Begriff "Chirurgie" nicht zu lesen. Immerhin werden Straßenunfälle, die zu den schlimmsten Killern in Afrika gehören, als Problem genannt; ebenso die oft schlechte Versorgung von Kindern, Müttern und Schwangeren.

Sie rollt das bayerische "R" und verschluckt das amerikanische

Und um Missverständnisse zu vermeiden: Global-Surgery-Forscher wie Gründl wollen nicht das globale Engagement gegen Infektionskrankheiten eindampfen. Nur: Auf dem afrikanischen Kontinent kommen jedes Jahr etwa 26 von 100 000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben, in Europa sind es gerade mal neun. Viele dieser Unfallopfer sterben, weil sie nicht operiert werden können. Doch die Straßen sind nicht nur unsicher, sondern fehlen oft. In Sambia zum Beispiel, das zeigen die Daten von Gründl und ihrem Team, lebt ein Viertel der Bevölkerung zwei oder mehr Stunden Fahrt vom nächsten Krankenhaus entfernt. Für Patienten mit einem Schlaganfall, einem Schädel-Hirn-Trauma oder häufig auch einer Geburtskomplikation ist das viel zu lang. Jedes Jahr sterben weltweit etwa 300 000 schwangere Frauen vor der Entbindung, oft verbluten sie. In Sambia, um im Beispiel zu bleiben, versorgen gerade mal 97 Chirurgen ein ganzes Land; es hat 16 Millionen Einwohner.

Diese Zahlen zeigen: Wohin der eine Dollar investiert werden soll, ist so einfach nicht zu beantworten. Bewertet man eine Krankheit nicht nur nach der Frage, wie viele Menschen an ihr sterben, sondern auch, wie stark sie ein beschwerdefreies Leben einschränkt, rückt die Chirurgie schnell in den Fokus. Man denke an den Bauern mit dem gebrochenen Arm, der seine Familie nicht mehr ernähren kann.

Fragt man Magdalena Gründl nach einem solchen Beispiel, erzählt sie von Grace, einem 4-jährigen Mädchen, das sie in einer Klinik in Tansania kennengelernt hat. Das Kind war gestürzt, der Kreislauf nach Tagen zusammengebrochen. Grace ist wahrscheinlich an einer Infektion gestorben, die Wunde war nicht steril verbunden. Für Gründl ist das Erlebnis mit Grace, das es weltweit tausendfach gibt, ihr persönlicher Schlüsselmoment. Heute reist Gründl durch die Welt, sie rollt das bayerische "R" und verschluckt das amerikanische, sie hat so lange im Ausland gelebt, dass sie immer wieder nach deutschen Wörtern sucht. Gründl liebt den internationalen Flair ihrer Forschung und scheut sich nicht, zwischen vielen erfahrenen, älteren Ärzten auf einem Podium zu sprechen. Sie ist überall die jüngste, oft die einzige Frau.

Die Dinge also anders sehen, den Blick von oben zuzulassen, genau darum geht es ihr. In einem wegweisenden Aufsatz im Fachblatt The Lancet, den sie immer wieder zitiert, wird beschrieben, welchen enormen Effekt eine gute chirurgische Versorgung auf das Leben der Menschen in vielen Regionen der Welt hätte: "lost lives, lost potential, lost output" heißt die Triade, gegen die man ankämpfen will - und zwar mit Nadel und Faden, mit Röntgengeräten, besserer Ausbildung und sicheren Straßen: Es ist der Kampf gegen verlorene Leben, verlorenes Potenzial, verlorene Arbeitskraft.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3574249
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 06.07.2017/fehu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.