Gewalt gegen psychisch Kranke:Die übersehenen Opfer

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Menschen mit seelischen Störungen tragen ein erhebliches Risiko, dass ihnen Gewalt angetan wird. Dabei geht es nicht um Pöbeleien: Psychisch Kranke werden häufiger ermordet als Gesunde.

Von Christina Berndt

Die volltrunkene, herumpöbelnde Mutter, der manische Alte mit seiner bipolaren Störung, die schizophrene junge Frau in ihrem Wahn - psychisch Kranke sind in der Vorstellung vieler Menschen gefährliche Zeitgenossen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Dabei gibt es auch eine andere Seite: Menschen mit psychischen Störungen tragen selbst ein erhebliches Risiko, dass ihnen Gewalt angetan wird.

Im Vergleich zu Gesunden fallen sie fünfmal so häufig einem Mord zum Opfer, wie eine Studie aus Schweden besagt, die acht Jahre lang die Daten der gesamten Bevölkerung ausgewertet hat. Von den 7,3 Millionen Erwachsenen wurden in dieser Zeit 615 umgebracht. 141 der Ermordeten (22 Prozent) waren psychisch krank ( British Medical Journal, online).

Jahrzehntelang habe man sich nur für die Risiken interessiert, die psychisch Kranke für die gesunde Bevölkerung bedeuten, monieren die Forscher um Jan Sundquist von der Universität Lund. Man sollte an diese Patienten aber nicht nur als Täter denken, sondern besser für ihre Sicherheit und Gesundheit sorgen. Am meisten gefährdet sind den Daten zufolge die Suchtkranken; sie fallen neunmal so häufig einem Mord zum Opfer wie Gesunde; Menschen mit Persönlichkeitsstörungen 3,2-mal, mit Depressionen 2,6-mal und mit Schizophrenie 1,8-mal. Dabei wurden Geschlecht, Alter, Bildungsstand und Einkommen herausgerechnet.

Ein Grund für die hohen Mordraten könnte sein, dass psychisch Kranke oft in armen Gegenden leben, wo es mehr Gewalt gibt. Womöglich sind sie sich auch gefährlicher Situationen weniger bewusst und rufen durch ihre Reizbarkeit oder Paranoia die Aggressivität ihres Gegenübers hervor.

Häufig aber würden diese Menschen angegangen, weil andere sie für gefährlich, unberechenbar oder einfach für verletzlich halten, schreiben die Psychiater Roger Webb, Jenny Shaw und Louis Appleby von der University of Manchester in einem Kommentar: "In den Medien werden psychisch Kranke als Bedrohung für die Sicherheit dargestellt. Diese kontinuierliche Stigmatisierung macht gewalttätige Schikanen gegen diese Menschen, die ohnehin schon zum Rand der Gesellschaft gehören, noch wahrscheinlicher." Es wäre hilfreich, mit diesen Patienten Strategien zur Konfliktbewältigung zu trainieren. Zugleich sollten Aufklärungsprogramme dafür sorgen, dass ihnen mit mehr Wohlwollen begegnet wird.

© SZ vom 06.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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