Süddeutsche Zeitung

Gewalt gegen Mediziner:Helfer als Opfer

"Angriff mit Stichwaffe", "mit Pistole bedroht": Gewalt gegen Ärzte und Pflegepersonal wurde lange unterschätzt. Viele Mediziner nehmen die aggressiven Patienten noch in Schutz.

Von Werner Bartens

Der Mann war groß und athletisch und entwickelte ungeheure Kräfte. Neben einem Arzt und einem Pfleger waren immerhin sechs Polizisten nötig, um den tobenden Patienten auf den Boden zu drücken und ihm Handschellen anzulegen. "Wir mussten ihn auf die Intensivstation bringen, erst dort konnten wir ihn sedieren", sagt Markus Wörnle vom Münchner Universitätsklinikum Innenstadt. "Er war betrunken und hatte zudem diverse Drogen genommen."

Ein anderer Patient aus der Notaufnahme zog sich bis auf die Unterhose aus und kletterte die Außenwand des alten Gemäuers hoch. Dort hockte er sich in beträchtlicher Höhe auf einen Sims. "Er hat gemeint, er sei ein Vogel und könne fliegen", erinnert sich Wörnle. "Wir hatten Angst, dass er auf andere Patienten springt oder sich selbst verletzt." Für den Arzt, der die internistische Notaufnahme der Uniklinik leitet, ist das Ungewöhnliche mittlerweile alltäglich. "Irgendwas ist eigentlich immer und irgendwann wird das normal", sagt Wörnle. "Ein Patient, Mitte 30, hat mit Krücken um sich geschlagen. Ein anderer hat so sehr randaliert, dass er ein Ultraschallgerät umgeschmissen und Tausende Euro Schaden verursacht hat." Und dann erwähnt Wörnle noch die Schachtel, in der Mitarbeiter der Notaufnahme Klappmesser und andere Gegenstände gesammelt haben, mit denen sie von Patienten bedroht worden sind.

Was nach einem Bandenkrieg oder organisiertem Verbrechen klingt, spielt sich dort ab, wo man es am wenigsten erwartet: In Krankenhäusern, Ambulanzen und Praxen. Und die Gewalt trifft häufig jene, die von Berufs wegen helfen: Ärzte und Pflegepersonal. Aggressionen in der Medizin und gegen Angehörige der Heilberufe werden massiv unterschätzt. So waren in der jüngsten Gesetzesvorlage von Justizminister Maas, die vorsah, Übergriffe gegen Polizisten und Sanitäter stärker zu ahnden, ausgerechnet die Ärzte nicht berücksichtigt.

Ein Hausarzt notiert lapidar: "Angriff mit Stichwaffe, Flucht meinerseits durch Fenster"

"Gerade bei Nacht- und Nebeldiensten kann etwas passieren", sagt Florian Vorderwülbecke, Hausarzt in Deisenhofen, einem Ortsteil von Oberhaching. "Das bilden sich nicht nur einzelne Ärzte ein, und das sind auch keine hysterischen Kolleginnen, die darüber klagen, wie manchmal unterstellt wird." Der Mediziner hat 2015 gemeinsam mit Kollegen von der Technischen Universität München eine Analyse über Gewalt und Aggressionen im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, die deutlich macht, wie verbreitet das Phänomen ist.

Demnach sind 91 Prozent der Allgemeinmediziner und praktischen Ärzte im Verlauf ihrer Tätigkeit schon mit aggressivem Verhalten von Patienten oder Angehörigen konfrontiert worden. 23 Prozent der Mediziner erlebten schwerwiegende Aggressionen und Gewalt, bei elf Prozent der Befragten ereigneten sich die heftigen Zwischenfälle in den vergangenen zwölf Monaten. In ihrer Praxis fühlen sich zwar die meisten Ärzte noch sicher, während der Bereitschaftsdienste und bei Hausbesuchen sieht das jedoch anders aus. Zwei Drittel der Ärztinnen und ein Drittel der Ärzte sind sich dann unsicher.

Die Fallschilderungen in Vorderwülbeckes Fachartikel lesen sich wie Auflistungen aus dem Strafgesetzbuch. Sie reichen von wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen bis hin zu extremer Gewalt. "Ein Patient hat sich über die Wartezeit so aufgeregt, dass er mich übel beschimpft und den auf der Erde stehenden PC zertreten hat", berichtet ein Arzt. "Tätlicher Angriff mit Faustschlägen", notiert ein anderer. "Mit Messer bedroht und bei Ankunft in der Wohnung von drei Pitbulls empfangen und genötigt", heißt es in einem Bericht aus dem ärztlichen Bereitschaftsdienst. Besonders Hausbesuche scheinen gefährlich zu sein. "Von Ehefrau des Patienten in der Wohnung eingesperrt und von Patient mit Pistole bedroht worden - er hatte bereits das Fenster zerschossen", schreibt ein Arzt. Ein Hausarzt notiert lapidar: "Angriff mit Stichwaffe, Flucht meinerseits durch Fenster."

Viele malträtierte Mediziner versuchen, gewalttätige Patienten zu entschuldigen

Spricht man mit Ärzten über ihre Gewalterfahrungen, reagieren sie erstaunlich gelassen, manchmal sogar verständnisvoll. Ein Notarzt aus Freiburg bekam während eines nächtlichen Einsatzes am Kaiserstuhl von einem drogenabhängigen Patienten eine abgebrochene Flasche an den Hals gehalten. "Ich wusste zwar, dass es jetzt ganz schnell aus sein kann", sagt der Mediziner. "Aber dann konnte ich die Situation doch beruhigen." Unsicher oder gar bedroht fühlt er sich während seiner Arbeit jedoch nicht. "In all' den Jahren war das der einzige wirklich gefährliche Zwischenfall", sagt der Arzt.

Auch in Florian Vorderwülbeckes Untersuchung finden sich beschwichtigende Erklärungsversuche malträtierter Ärzte. "Der Patient fing an, mich zu boxen und zu schlagen mit erheblicher Aggression", so ein Mediziner. "Er konnte jedoch nichts dafür, denn sein Hb-Wert war unter 5 und das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt." Können Patienten wirklich nichts dafür, wenn sie auf Ärzte losgehen und damit auf jene, die ihnen helfen wollen? "Manchmal ist da sicher Enttäuschung der Patienten im Spiel, dass der Arzt nicht helfen kann und dann lassen sie ihre Wut raus", sagt Antonius Schneider, Chef der Allgemeinmedizin an der TU München. "Zudem gibt es immer weniger Respekt vor Autoritäten. Die Hemmschwelle gegenüber Ärzten sinkt - das ist die Kehrseite einer Medizin auf Augenhöhe."

Sicherlich, es gibt auch das "Sickness Behavior", das typische Krankheitsverhalten. Wer leidet, Schmerzen hat oder geschwächt ist durch eine Infektion, ist unwirsch, leicht reizbar und schnell aus der Ruhe zu bringen. Ärzte wissen das und gehen meist nachsichtiger mit Patienten und ihren Angehörigen um. Wer in Sorge ist um seine Liebsten oder unerwartet mit einer lebensbedrohlichen Krankheit oder anderen Extremen konfrontiert wird, kann schon mal extrem reagieren. Aber gleich alles um sich herum kurz und klein schlagen?

Markus Wörnle unterscheidet zwei Gruppen, die in seiner Notaufnahme Krawall anzetteln. "Das sind Menschen, deren aggressives Potenzial in der Krankheit liegt, sei es durch Intoxikationen mit Alkohol, Drogen, bei Demenz oder psychiatrischen Erkrankungen", sagt der Intensivmediziner. Das habe sicher auch mit der Nähe der Klinik zur Partymeile, zur Drogenszene und zum Bahnhofsviertel zu tun. "Und dann gibt es jene Patienten, die mit dem System Notaufnahme unzufrieden sind. Sie kommen nicht mit den langen Wartezeiten zurecht, fühlen sich zurückgesetzt und werden wütend, wenn dringende Notfälle vorgezogen werden."

Die Anspruchshaltung der Patienten ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen, da sind sich alle Ärzte einig. Der Respekt vor den Doktoren sinkt, Medizin wird als Dienstleistung verstanden, die schnell zu erbringen ist. Gerade in den Innenstädten der Metropolen haben viele Patienten keinen Hausarzt mehr, Menschen aus anderen Kulturen kennen dieses Prinzip gar nicht und gehen gleich in die Klinik. Und dann gibt es jene Menschen, die unter der Woche keine Zeit haben und auch bei kleinsten Wehwehchen die Notaufnahme aufsuchen. "Einer konnte nachts nicht schlafen, einem anderen war nach dem Besuch beim Burgerbrater ein bisschen schlecht, der nächste wollte ein Rezept", sagt Wörnle. "Das ist typisch und auch solche Leute werden manchmal wild, wenn sie nach einer halben Stunde nicht drankommen. Dann müssen die, die wirklich krank sind, länger warten."

Und so werden Ärzte und Pflegekräfte drangsaliert und beschimpft. In Berlin und Saarbrücken wurden Ärzte ermordet. In der Notaufnahme der Münchner Uniklinik-Innenstadt haben sie vergangenes Jahr ein paar Monate lang die Zwischenfälle notiert. Manchmal passierte drei, vier Tage lang wenig, dann gab es drei Übergriffe am Tag. Zweimal in der Woche erleben es Krankenschwestern demnach, dass Patienten unter Drogen anfangen, vor ihnen zu onanieren. Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten kommen öfter vor. "Es passiert schon mal, dass man gebissen wird", sagt Wörnle. In der Notaufnahme liegen Handbücher mit Griffen zur Selbstverteidigung aus. Der Sicherheitsdienst patrouilliert 24 Stunden am Tag durch die Klinik. Notfallknöpfe alarmieren die Security oder direkt die Polizei. Die Liste der Patienten mit Hausverbot zählt mehr als 120 Namen, auch wenn sie im Notfall irrelevant ist, weil dann allen geholfen werden muss.

In der Notaufnahme liegen Handbücher mit Griffen zur Selbstverteidigung aus

"Man kommt ins Grübeln, Kliniken und Arztpraxen sind ja keine Hochsicherheitstrakte", sagt Allgemeinmediziner Schneider. Hausarzt Vorderwülbecke sieht zumindest eine Mitschuld an den zunehmenden Aggressionen der Patienten in der Medizin selbst. "Wie gehen wir Ärzte denn mit den Menschen um? Lange Wartezeiten, immer weniger Personal. Manchmal arrogantes Auftreten ohne Einfühlungsvermögen gegenüber Menschen in Angst", so der Arzt. "Wir werden ja nicht von einem Haufen Wilder bedroht, sondern können auch selbst etwas verbessern."

Immerhin tut sich etwas. Nachdem Vorderwülbeckes Schulungen über Gewalt gegen Ärzte vor Jahren noch als Fortbildungsveranstaltung abgelehnt wurden, weil es sich angeblich um "kein ärztliches Thema" handelte, wird die Weiterbildung inzwischen von Ärztekammern unterstützt. Zudem sind Ärzte immer seltener allein nachts im Bereitschaftsdienst unterwegs, oft haben sie Begleitfahrer dabei. Ärzte wie Pflegepersonal werden in Sicherheits- und Deeskalationstrainings geschult. Darauf hätte die Medizin schon früher kommen können. Franz Kafka hat bereits 1917/18 in seiner Erzählung "Ein Landarzt" eindrucksvoll vor Hausbesuchen gewarnt: "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen."

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SZ vom 08.05.2017/chrb
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