Süddeutsche Zeitung

Gesundheitswesen:Von wegen Spitzenmedizin!

Genervt vom Eigenlob des hiesigen Gesundheitswesen fordern Experten mehr Demut. Denn ganz so rosig sieht es mit der Versorgung von Patienten in Deutschland nicht aus.

Kommentar von Werner Bartens

Das Gesundheitswesen in Deutschland feiert gern, besonders sich selbst. Leuchtturm-Unis, Zentren für Spitzenmedizin, Exzellenzcluster, wohin man schaut. Doch die "Vortrefflichkeits-Büschel", wie man letztgenannten Begriff übersetzen müsste, verstellen den Blick auf das, was die Medizin in Deutschland auch ausmacht: Mangelversorgung ist häufig, etwa bei Diabetikern oder in der Wundbehandlung; auf der anderen Seite eine enorme Verschwendung personeller wie finanzieller Ressourcen durch Über- und Fehlversorgung. Und der Pflegenotstand betrifft nicht nur Altenheime und geriatrische Abteilungen, sondern zieht sich durch die gesamte Medizin. Auch in Kinderkliniken werden Betten aus Personalnot nicht belegt.

Genervt vom dröhnenden Eigenlob des hiesigen Gesundheitswesens hat das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) jetzt eine Stellungnahme herausgegeben, die es in sich hat. Deutschland gebe mit 11,2 Prozent zwar EU-weit den höchsten Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. Der erste Platz bringe aber keine entsprechenden Erfolge. In der Lebenserwartung liege Deutschland nur auf Platz 18 in der EU und damit vier Jahre (Männer) hinter der Schweiz und drei Jahre (Frauen) hinter Spanien.

Besonders frappierend ist die Differenz der Lebenserwartung abhängig von der sozialen Schicht

Auch bei anderen Gesundheitsparametern findet sich Deutschland im hinteren Mittelfeld der Industrieländer, sei es der Erhalt der Selbständigkeit im höheren Alter, die Versorgung chronisch Kranker oder die Kindersterblichkeit. Besonders frappierend ist die Differenz der Lebenserwartung abhängig von der sozialen Schicht. Wer zur einkommens- und bildungsstärksten Gruppe gehört, wird acht bis 13 Jahre älter als weniger Privilegierte desselben Jahrgangs. Nicht nur an der Bildungsgerechtigkeit mangelt es in Deutschland, auch an der gesundheitlichen Chancengleichheit.

Universitätskliniken und große städtische Krankenhäuser nennen sich oft Orte der "Maximalversorgung" - mit der erhofften Nebenwirkung einer Gewinnmaximierung. Tatsächlich hält Deutschland unrühmliche Weltmeistertitel in den Disziplinen Gelenkersatz, Herzkatheter und Eingriffe an der Wirbelsäule - ohne dass es den Menschen an Herz und Knochen deshalb besser ginge. Optimal statt maximal zu versorgen, wäre ein lohnendes Ziel: Patienten nicht jede, aber die beste Behandlung zukommen zu lassen und dabei nach rein medizinischen und nicht primär wirtschaftlichen Kriterien zu handeln.

Ansonsten droht die "erlösgesteuerte Gefährdung des Patientenwohls", wie das Netzwerk EbM warnt. Medizin ist keine Handelsware, sondern Daseinsfürsorge. Exzellente Voraussetzungen für Spitzenmedizin hätte das hiesige Gesundheitswesen - dazu wäre allerdings vielerorts eine radikale Neuorientierung nötig.

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SZ vom 02.03.2019/fehu
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