Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsversorgung in Griechenland:Schluss, Aus, kein Amen

Wehe dem, der in Griechenland ernsthaft krank wird: Notaufnahmen haben nur tageweise geöffnet. Angehörige müssen die Pflege von Klinikpatienten übernehmen. Und Hunderttausende haben gar keine Krankenversicherung mehr. Das griechische Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps.

Von Alexandros Stefanidis

Manche der Wartenden haben Tränen in den Augen. Es sind Patienten mit schmerzverzerrtem Gesicht. Einige halten sich Wattebällchen auf frische Einstiche. Eine blasse alte Frau sitzt im Pyjama in einem Rollstuhl, der Schlauch aus ihrer Vene führt hoch zu einem Infusionsbeutel. Neben ihr röchelt ein älterer Mann, er bekommt keine Luft, die Sauerstoffmaske, die ihm eine Krankenschwester vor wenigen Minuten auf die Nase gesetzt hat, ist verrutscht. Aber bei dem Gedränge im Wartesaal der Notaufnahme fällt das keinem auf. Die Frau im Pyjama bittet einen der Security-Mitarbeiter, die den Eingang zu den Behandlungsräumen bewachen, dem alten Mann die Maske wieder übers Gesicht zu ziehen. Der Alte dankt es ihm mit einem Wimpernschlag.

Die Notaufnahme des Papageorgiou-Krankenhauses in Thessaloniki, dem Ruf nach eines der besten Krankenhäuser des Landes, behandelt am Tag 1500 Menschen. Die durchschnittliche Wartedauer beträgt vier Stunden. Zum Vergleich: Das Münchner Klinikum rechts der Isar verarztet pro Tag 71 Menschen, die Berliner Charité, größte Universitätsklinik Europas, 580.

Der Grund für den enormen Andrang in Thessaloniki: Notaufnahmen griechischer Krankenhäuser haben - um Ausgaben zu sparen - nicht täglich geöffnet, sondern nur alle vier Tage. Die Kliniken wechseln sich ab. Für den Großraum Thessaloniki, in seiner Größe und Einwohnerzahl in etwa vergleichbar mit München, bedeutet das: Nur zwei Notfallambulanzen haben täglich Dienst. Wer plötzlich Schmerzen verspürt oder gar einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleidet, sollte sich erkundigt haben, welche Notaufnahme geöffnet ist.

Das griechische Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch. Und die Schuldenkrise beschleunigt diesen Prozess. Fast jedes der Sparpakete, die in den vergangenen Jahren im griechischen Parlament beschlossen wurden, enthielt einen Posten, der die Ausgaben im Gesundheitsressort beschnitt.

Während die öffentlichen Gesundheitsausgaben im Jahr 2009 noch 14 Milliarden betrugen, lagen sie im Jahr 2012 nur noch bei geschätzten 9,5 Milliarden. In diesem Jahr sollen sie auf Druck der Troika noch einmal gesenkt werden. In Brüssel und Berlin wird das als Erfolg gefeiert. In Griechenland stürzt es die Bevölkerung in immer tiefere Not. Kaum ein Krankenhaus kann die europäischen Mindeststandards einhalten. Regelmäßig zeigt das griechische Fernsehen Bilder bettelnder und flehender alter Menschen vor Kliniken oder Apotheken in Athen oder Thessaloniki. Das sind mittlerweile Warnbilder. Die Botschaft: Wehe dem, der in Griechenland ernsthaft krank wird.

Kiparisia Karatzidou, Oberärztin im Papageorgiou-Krankenhaus, antwortet auf die Frage, ob irgendetwas gut läuft im griechischen Gesundheitssystem, zunächst mit zusammengekniffenen Augen. In etwa so, als hätte man ihr einen schlechten Witz erzählt. "Nein, nichts", sagt sie. "Ich erlebe immer mehr Patienten, die keine Krankenversicherung mehr haben und erst zu uns kommen, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen oder ihre Krankheit schon zu weit fortgeschritten ist. Etwa Asthma-, Zucker- oder Krebskranke. Unter ihnen auch viele verängstigte Mütter mit ihren Kindern. Wäre dieser Job nicht zu meiner täglichen Routine geworden, würde ich losheulen. Aber das erspare ich Ihnen."

Von Alexandroupolis im Norden Griechenlands bis hinunter zur Südspitze auf dem Peloponnes - in den meisten griechischen Krankenhäusern geht ohne die Hilfe von außen nichts. Viele Ärzte und Krankenschwestern bitten Verwandte von Patienten, Verbandszeug, Tupfer oder gar OP-Scheren und Medikamente wie Antibiotika erst selbst in der Apotheke zu kaufen und dann ins Krankenhaus zu bringen, weil sich das Krankenhaus nichts davon mehr leisten kann.

Usus ist es in den meisten griechischen Krankenhäusern mittlerweile, dass sich nicht Pfleger oder Krankenschwestern um die Patienten kümmern, sondern deren Verwandte: Sie wechseln Verbände, drehen Schlaganfallpatienten, die sich nicht mehr bewegen können, bringen Mittag- oder Abendessen ins Krankenhaus. Die meisten Kliniken setzen diese Eigenleistungen der Verwandten sogar voraus. Jobst Rudolf ist Deutscher und Chefneurologe des Papageorgiou-Krankenhauses. Er fasst die Zustände im griechischen Gesundheitswesen in zwei Wörtern zusammen: "Purer Überlebenskampf".

Apotheker streiken, weil ihnen die nationale Gesundheitskasse Eopyy, die für nahezu alle Griechen zuständig ist, Geldprobleme hat. Eopyy hat Schulden in Höhe von rund zwei Milliarden Euro. Nicht nur bei Apothekern, auch bei Medikamentenherstellern und Krankenhäusern. Ärzte und Krankenschwestern streiken, weil ihnen die staatlichen Kliniken bis zu acht Monatsgehälter schulden.

Lambrini Asteriou ist Krankenschwester im Papageorgiou. Seit den Lohnkürzungen verdient sie noch knapp 1000 Euro netto. Für ihre 14-Stunden-Nachtschicht in der Notaufnahme erhält sie einen Nettozuschlag von gerade einmal 20,62 Euro. Stundenzusatzlohn: 1,47 Euro. Sie sagt: "Ich habe einen regulären, kräftezehrenden Job in einem der besten Krankenhäuser dieses Landes und trotz einer 60-Stunden-Woche reicht es hinten und vorne nicht."

Eine Besserung der Lage zeichnet sich nicht ab. 2011 unterzeichnete Griechenland ein Abkommen mit internationalen Kreditgebern, um dem finanziellen Bankrott zu entgehen. Darin steht, dass Griechen ohne Krankenversicherung all ihre Gesundheitskosten selbst tragen müssen. In Griechenland verliert jeder nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auch seine Krankenversicherung. Im Moment sind laut griechischem Statistikamt 1,3 Millionen Griechen arbeitslos, 26,4 Prozent. Etwa die Hälfte besitzt schon keine Krankenversicherung mehr. Die Aussichten auf einen Job könnten kaum schlechter sein.

Für Oberärztin Kiparisia Karatzidou ist die Frustrationsgrenze nach vier Jahren Dauerkrise erreicht, sie sagt: "In Griechenland bedeutet Arbeitslosigkeit heute den Tod." Sie überlegt, Griechenland zu verlassen. Ihr Ziel: Deutschland.

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SZ vom 28.03.2013/beu
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