Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsversorgung in der Krise:Griechischer Infarkt

Griechenland 2015: Ein Drittel der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung mehr. Dimitri etwa konnte die Notarztrechnung nicht bezahlen. Also sperrte man ihn monatelang ins Gefängnis - trotz Herzinfarkt.

Von Alex Rühle, Athen

Zum Beispiel Dimitri. 65 Jahre. Keine Krankenversicherung. Dimitri ist so schwer herzkrank, dass er alle vier Wochen zur Untersuchung kommen muss. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf. "War mir nicht aufgefallen", sagt sein Arzt Giorgos Vichas, "bei den vielen Hundert, die ich hier untersuche." Erst nach sechs Monaten saß Dimitri wieder bei Vichas im überfüllten Wartezimmer - und sah schrecklich aus.

Kein Wunder, das Gefängnis ist kein guter Orte für einen Herzkranken: Dimitri war in der Stadt mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen. Notarzteinsatz. Intensivstation. Kostet Geld. Dimitri konnte nicht zahlen, das ist ja der Grund, warum er keine Versicherung mehr hat. Er kam wegen der nicht bezahlten Krankenhausrechnungen in Untersuchungshaft. Viereinhalb Monate. "Das ist Griechenland 2015", sagt Giorgos Vichas mit ruhiger Stimme.

Willkommen also in Griechenland. Willkommen in der Arztpraxis Elliniko, am Rand von Athen, im Zentrum der Krise. Willkommen im Katastrophengebiet.

Als Oberarzt verdient man monatlich 1200 Euro

Klingt nach Übertreibung? Ist amtlich beglaubigt: Die griechische Sektion der "Ärzte der Welt" hat 2012 all ihre Ärzte aus Uganda, Afghanistan und anderen Dritte-Welt-Ländern abgezogen, weil Griechenland seit den Kürzungen im Gesundheitsbereich vom offiziellen Kriterienkatalog her selbst zu den Katastrophengebieten zählt. Mehr als 30 Prozent der Bevölkerung haben keine Krankenversicherung mehr, die Hälfte der Ärzte wurde entlassen, ganze Krankenhausstationen können nicht mehr arbeiten, die Kindersterblichkeit ist zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent gestiegen, die Zahl der Suizide in Griechenland hat sich mehr als verdoppelt.

Giorgos Vichas ist Kardiologe, er arbeitet als Oberarzt für 1200 Euro monatlich an einem Athener Krankenhaus. Ab 2009 kamen immer mehr seiner Patienten nicht zu ihren Untersuchungen. Weil sie arbeitslos und damit unversichert waren. Also fasste Vichas eines nachts den Entschluss: Dann komme ich ab jetzt zu ihnen. 2011 eröffnete er zusammen mit ein paar Kollegen und vielen freiwilligen Helfern diese Klinik. Nebenher. Unentgeltlich.

Vier Jahre macht er das jetzt. Eigentlich Tag und Nacht. Dennoch wirkt er weder ausgebrannt noch verbittert, sondern ruhig und stark. Wie kann das sein? Vichas lacht leise. "Verbittert wäre ich, wenn ich das nicht machen würde. Man muss sich wehren, sonst geht man ein."

Wir waren schon mal hier, vor zwei Jahren. Damals wurde Vichas von der Politik bekämpft, der rechtspopulistische Gesundheitsminister drohte ihm am Telefon, es wurde eingebrochen in der Klinik, sein Laptop verschwand, die Polizei machte Razzien, weil angeblich in den gespendeten Medikamenten Drogen versteckt wurden, Schikane rund um die Uhr.

Die Anfeindungen haben aufgehört, "wir haben ja auch endlich einen fähigen Gesundheitsminister", sagt Vichas. Und sonst? Was hat sich geändert? "Es kommen doppelt so viele Patienten wie bei unserem letzten Gespräch. 15 000 im vergangenen Jahr." Mittlerweile versorgt die Klinik auch viele Versicherte, schließlich muss mittlerweile jeder 25 Prozent eines Medikaments selber zahlen, was für viele unerschwinglich ist, ob versichert oder nicht.

Sie haben sich anfangs drei Regeln gegeben, an die sie sich bis heute halten: Kein Geld, weder als Bezahlung noch als Spende. Institutionen, die ihnen größere Sachspenden überlassen, dürfen das nur tun, wenn sie ihnen versprechen, die Spende nicht für PR-Kampagnen zu nutzen. Und keine politischen Gespräche während der Arbeit. Wobei das kaum durchzuhalten ist, hier geht es permanent um Politik, schließlich entscheidet Politik in Griechenland mittlerweile über Leben und Tod. "Die Maßnahmen", also der Einsparungsforderungskatalog, tauchen hier in jedem Gespräch auf, mal klingen sie wie ein Synonym fürs Damoklesschwert, mal wie der Titel eines absurden Theaterstücks von Eugene Ionesco.

Vichas ist keiner, der die Griechen nur als arme Opfer hinstellt, bestimmt nicht, er kann lang über oligarchische Strukturen, Machtmissbrauch und Verwaltungsirrsinn sprechen. "Aber", fragt er, " ist es deshalb sinnvoll, unser Gesundheitssystem zu zerstören?" Griechenland gibt nur noch vier Prozent des ohnehin kärglichen Bruttosozialprodukts für das Gesundheitssystem aus, in Deutschland sind es mehr als acht Prozent. Jetzt soll auch hier weitergespart werden.

Vichas zuckt mit den Schultern: "Wenn sich die Syriza-Regierung gegen die Mehrwertsteuererhöhung auflehnt, haltet Ihr Europäer das für absurdes Theater. Aber wenn sie nachgeben, hat das tödliche Folgen." Brüssel fordert eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Medizin von 6 auf 13 Prozent. "Wenn das kommt", sagt Vichas ruhig, " brauchen wir doppelt so viele Armenkliniken wie bisher."

Die Klinik ist für viele Athener jetzt schon die letzte Rettung, 40 000 Patienten haben sie bisher geholfen: Frauen, die im siebten Monat schwanger sind ohne bislang einen Frauenarzt besucht zu haben. Säuglinge, die aussehen "wie auf Postern aus Afrika", wie Vichas sagt: Weil ihre Eltern nicht genug Geld haben, strecken sie die Milchpulverrationen.

Selbst ein Geburtstag kann mittlerweile tödlich sein in Griechenland. Kürzlich saß hier eine alte Frau, deren arbeitsloser Enkel Leukämie hat. Er braucht ein sehr teures Mittel, "2000 Euro kostet das im Monat", sagt Vichas, "er muss das nehmen, selbst eine einwöchige Pause würde ihn umbringen." Bis zum 29. Lebensjahr kann man in der Krankenversicherung der Eltern mitlaufen, danach ist Schluss.

Also muss die Familie seit dem 29. Geburtstag des jungen Mannes 2000 Euro im Monat auftreiben. Die Großmutter hat alles verkauft, was sie noch hatte, um ihrem Enkel noch für ein paar Wochen über die Runden zu helfen. Irgendwann war nichts mehr da. "Als die Frau hier ankam, hatte er noch Medizin für vier Tage."

Am selben Abend hat Vichas auf Facebook von dem Fall erzählt. Leukämiekranke aus ganz Griechenland haben daraufhin von ihren eigenen Medikamenten jeweils ein paar Tabletten abgeschnitten und per Kurier geschickt. "Wir haben genug Tabletten für die nächsten drei Monate zusammenbekommen." Puh. Mal zur Abwechslung was Erfreuliches ansprechen: Vichas und seine Kollegen machen so gute Arbeit, dass ihnen das EU-Parlament soeben den European Citizen Award verliehen hat. Glückwunsch! Ist zwar ein Preis ohne Geld, aber trotzdem toll. Oder etwa nicht? Nein?

Vichas lässt die Glückwünsche an sich abregnen. Er, der zuvor so ruhig von all den Katastrophen sprach; von Müttern, die frisch entbunden hatten und denen ihre Säuglinge vorenthalten wurden: Erst, so sagte die Klinikleitung, müssten sie ihre Entbindung zahlen, dann bekommen sie ihre Kinder; dieser Giorgos Vichas echauffiert sich ausgerechnet, als es um diesen Preis geht. "Ich kann ihn nicht annehmen", sagt er. Aber warum denn nicht? "Weil die EU ein Krankenhaus auszeichnet, dass es ohne ihre Sparpolitik nicht geben würde."

Nun gibt es zwar einen Unterschied zwischen der Troika und dem EU-Parlament, aber den lässt Vichas nicht gelten: "Sie geben uns einen Preis, weil wir das Elend lindern und fordern gleichzeitig die Umsetzung von Maßnahmen, die Griechenland vom Elend in die Vernichtung treiben."

Beim Besuch 2013 war die letzte Frage an Vichas, was er am dringendsten brauche. Er zählte medizinisches Gerät und Medikamente auf. Dann stockte er und sagte: "Aber noch dringender brauchen wir ein Gefühl von Solidarität." Warum also nicht auch diesmal mit einer Variation der Frage aufhören: Angenommen, Ihr Bleistift wäre ein Zauberstab und Sie haben drei Wünsche frei, was würden Sie sich wünschen?

"Mir reicht ein einziger Wunsch", sagt Vichas. "Dass man in Europa versteht, dass wir keine Zahlen sind, sondern Menschen."

Info

Wer helfen will: Der Förder- und Freundeskreis Elliniko e.V. in Hamburg sammelt Spenden für die Armenklinik in Athen. http://engagement-ohne-grenzen.de, Telefon: 0157/34332921, E-Mail: vorstand@elliniko-freunde.de

Hier eine Übersicht über die in der Sozialpraxis dringend benötigten Medikamente und weiteres Material: http://www.mkiellinikou.org/en/our-needs/

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Quelle:
SZ vom 20.06.2015
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