Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsversorgung:Achtung, IGeL

Für die sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen müssen Patienten die Kosten selbst übernehmen. Doch die meisten IGeL sind umstritten, überflüssig oder sogar schädlich. Ein Internetportal bewertet nun die Leistungen und erklärt, was fragwürdig ist und was etwas taugt.

Werner Bartens und Guido Bohsem

Patienten werden mit sanftem Druck des Arztes überredet. Ein Hinweis auf die angeblich drohende Zweiklassenmedizin oder die Bemerkung "Für Ihr Auto würden Sie doch auch ein paar Extras bezahlen" reicht oft aus, und der bei einer gesetzlichen Krankenkasse versicherte Patient zahlt drauf.

Das gilt in doppelter Hinsicht: Der Kranke muss die Kosten für die Individuellen Gesundheitsleistung (IGeL) selbst tragen. Und den Schaden hat er auch noch. Denn die meisten IGeL sind im besten Falle umstritten oder überflüssig, im schlimmsten Falle sind sie sogar schädlich. Nur die Minderheit der Angebote, etwa eine sport- oder tauchmedizinische Untersuchung oder die Impfung vor Fernreisen, ist medizinisch uneingeschränkt sinnvoll, wird aber von Kassen nicht erstattet.

Ein neuer Service soll es den Patienten erleichtern, Nutzen und Nachteile der IGeL zu beurteilen. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) hat eine Internetseite eingerichtet, auf der Zug um Zug alle IGeL aufgeführt und bewertet werden (www.igel-monitor.de).

Insgesamt gibt es rund 350 IGeL, wobei sich viele nur geringfügig voneinander unterscheiden. Für den Anfang haben die Experten des MDS 24 der populärsten Angebote untersucht. Wer es eilig hat, kann schnell erfahren, dass eine Lichttherapie zur Behandlung von winterlichen Stimmungseintrübungen eine tendenziell positive Wirkung entfalten kann und damit besser wirkt als eine Behandlung mit einem Placebo.

Wer tiefer einsteigt, erfährt außerdem, dass er sich das Geld (zumeist sechs bis zehn Euro) sparen kann, wenn er im Winter mittags häufiger einen Spaziergang unternimmt.

IGe-Leistungen haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zufolge wurden im Jahr 2005 für geschätzte eine Milliarde Euro IGeL verkauft. Mittlerweile beziffern Experten das Verkaufsvolumen mit mindestens 1,5 Milliarden Euro jährlich, Tendenz steigend.

"Wir machen jetzt noch schnell eine Untersuchung"

Es gibt Ärzte, die nichts davon halten und komplett auf das "Igeln" verzichten. Andere erachten die Angebote als sinnvoll und schätzen wohl auch das zusätzliche Geschäft.

Als Patient stößt man vor allem bei Fachärzten auf die IGeL. Nach der Studie bieten Frauenärzte, Augenärzte, Urologen, Orthopäden und Hautärzte ihren Patienten pro Jahr 300- bis 600-mal eine IGeL an, praktische Ärzte und Allgemeinärzte lediglich etwa 100-mal.

Der "graue Markt" in den Praxen ist schlecht kontrolliert, oft werden keine Kostenvoranschläge gemacht und nicht mal Rechnungen gestellt. "Wir machen jetzt noch schnell eine Untersuchung", habe der Augenarzt gesagt, dann den Augeninnendruck gemessen, und später musste der verdutzte Patient bei der Sprechstundenhilfe die Kosten begleichen, berichten etliche Menschen in Internetforen.

"Obwohl vorgeschrieben, gab es in weniger als der Hälfte der Fälle eine schriftliche Vereinbarung, für jede siebte Leistung gab es nicht einmal eine Rechnung", sagt Doris Pfeiffer, Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes.

Seit Ende der 1990er Jahre steigt die Anzahl der IGeL - nicht weil Kassen sinnvolle Leistungen kürzen, sondern weil immer mehr sinnlose Medizin im Angebot ist. Das Arzt-Patienten-Verhältnis verändert sich dadurch. Haben vor zehn Jahren nur neun Prozent der Patienten berichtet, dass ihnen IGeL angeboten wurden, waren es zuletzt knapp 30 Prozent.

Doch wie soll der Kranke erkennen, ob der Doktor zu einer Behandlung oder Diagnostik rät, weil sie medizinisch sinnvoll ist, oder nur weil sie die Kasse des Arztes aufbessert?

Der Arzt sei zum Verkäufer und der Patient zum Kunden geworden, beklagen Ärzte, die dem "Igeln" skeptisch gegenüberstehen. Sogar der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Köhler, mahnt seine Kollegen, es mit der "Igelei" nicht zu übertreiben. Zur Enttäuschung der Kassen, der Ärzte und der Patientenschützer findet sich im Entwurf für das neue Patientenrechtegesetz keine Einschränkung für den Verkauf der umstrittenen Leistungen - wie etwa eine 24-stündige Bedenkzeit für den Patienten, die von vielen Seiten gefordert wird.

Beeinträchtigt wird das Bild des Arztes nämlich vor allem dadurch, dass viele IGeL mehr Schaden anrichten, als sie nutzen. Nach Worten von MDS-Chef Peter Pick wiesen von den 24 untersuchten Leistungen elf eine negative Nutzen-Schaden-Bilanz auf, vier davon sogar eine deutlich negative.

"Für die Versicherten bedeutet dies, besonders vorsichtig zu sein", so Pick. In letztere Gruppe fällt etwa der Test auf Toxoplasmose bei Schwangeren (14 bis 16 Euro). Diese von Katzen übertragene Infektion kann beim Ungeborenen schwere Schädigungen verursachen, wenn sich die Frau erstmals mit ihr infiziert.

Es gibt aber selbst nach jahrelangen Beobachtungen keinen Anhaltspunkt dafür, dass durch einen solchen Test weniger Kinder angesteckt werden, urteilt der MDS. Wenn die Diagnose aber weitere Untersuchungen nach sich zieht, kann es beispielsweise durch eine Fruchtwasseruntersuchung zu einer Fehlgeburt kommen.

Natürlich stecken auch hinter dem Portal wirtschaftliche Interessen. Das räumt GKV-Vorsitzende Doris Pfeiffer offen ein. Mediziner verkauften die IGeL häufig mit der Begründung, dass die Kasse die Untersuchung nicht mehr bezahle, argumentiert die Kassenverbands-Chefin: "Das wirkt sich natürlich schädlich auf den Leumund der gesetzlichen Krankenversicherung aus."

Die Krankenkassen haben für den Aufbau des Internetportals 350.000 Euro investiert. 100.000 Euro pro Jahr soll es kosten, die Seite weiter zu betreiben. Gut angelegtes Geld auch für die Versicherten, wie Pfeiffer findet. Denn schließlich könne mit mehr Information die Courage gefördert werden, die vom Arzt mit schönen Worten angepriesenen IGeL einfach abzulehnen.

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Quelle:
SZ vom 26.01.2012/mcs
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