Süddeutsche Zeitung

Gesundheitspolitik:Die verkannte Not der psychisch Kranken

  • Psychisch kranke Menschen sollen nach einem geplanten Gesetz künftig zuerst ein Vorgespräch mit einem Arzt führen - dieser soll dann entscheiden, wann und wo sie eine Therapie bekommen.
  • Gegen diese Art der Vorsortierung gibt es großen Widerstand, 200 000 Menschen haben eine Petition gegen den Plan unterschrieben.
  • Psychiater weisen indes darauf hin, dass manche Patientengruppen bisher benachteiligt würden und mehr Steuerung daher sinnvoll sein könnte.
  • Laut Bundespsychotherapeutenkammer werden zudem mehr Kassenzulassungen gebraucht, besonders in Vororten und auf dem Land.

Von Christina Berndt und Michaela Schwinn

Die Empörung ist enorm: Mehr als 200 000 Menschen haben sich in den vergangenen Wochen gegen ein Vorhaben des Gesundheitsministeriums ausgesprochen - oder besser gesagt, gegen einen kurzen Passus darin. Es könnte die größte Petition sein, die je beim Bundestag eingereicht wurde.

Warum der Aufschrei? Eigentlich hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinem geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz Gutes im Sinn: Patienten sollen nicht mehr monatelang auf einen Arzttermin warten müssen, sie sollen besser versorgt werden. Auch psychisch kranke Menschen. Sie sollen, wenn es nach Spahn geht, künftig zuerst ein Vorgespräch führen - mit einem Arzt, den sie nicht kennen, den sie nicht selbst aussuchen und den sie vermutlich nie wieder sehen. Dieser Arzt soll dann entscheiden, wann und wo sie eine Therapie bekommen. Es wäre eine Art Vorsortierung: Wer ist kränker? Wer kann warten?

"Wir haben in diesem Bereich zu wenig Steuerung"

Das sei sinnvoll, um in dringenden Fällen schneller helfen zu können, argumentierte Spahn. Es sei eine "Katastrophe", "diskriminierend", eine weitere Hürde für psychisch Kranke, denen es ohnehin schwerfalle, sich zu öffnen, sagten verschiedene Psychotherapeutenverbände. Politiker aus Opposition und SPD pflichteten ihnen bei. Am Donnerstag zeigte sich der Minister angesichts von so viel Gegenwind im Bundestag schließlich kompromissbereit: Wenn die Regelung verbesserungsfähig sei, "bin ich der erste, der für eine Verbesserung zu haben ist".

Über den Entwurf wird weiter beraten. Und doch ist an Spahns Idee auch etwas dran. "Wir haben in diesem Bereich zu wenig Steuerung", sagt Klaus Lieb, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz. Manche Patientengruppen würden bisher benachteiligt. So bekämen Menschen mit schwerwiegenden Krankheiten wie Alkoholismus, Schizophrenie oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung viel zu selten Hilfe. "Wir brauchen mehr Steuerung über den Schweregrad und das Krankheitsbild, sonst laufen wir Gefahr, nur die leichteren Fälle zu behandeln."

In dieser Debatte, die auch leidenschaftlich in den sozialen Medien ausgetragen wird, rücken aber noch viel grundsätzlichere Fragen in den Fokus: Sind psychisch Kranke überhaupt ausreichend versorgt, gibt es genügend Hilfsangebote, werden sie in der Gesellschaft akzeptiert? Es sind Fragen, die heute dringlicher sind denn je. Immer mehr suchen Hilfe, weil sie depressiv sind oder eine Angststörung haben. Zugleich steigt die Zahl der Fehltage im Beruf aufgrund psychischer Krankheiten seit Jahren rapide an. Das bedeutet nicht, dass heute mehr Arbeitnehmer krank an der Seele sind; aber sie achten mehr auf mögliche psychische Ursachen.

Mehr Kassenzulassungen werden gebraucht

Zwar kann von einer allgemeinen Akzeptanz psychischer Erkrankungen nicht die Rede sein, solange Lehramtsanwärter keine Therapeuten aufsuchen, weil sie um ihre Verbeamtung fürchten, und solange Menschen ihre Depression vor Kollegen oder sogar vor der Familie geheim halten; dennoch hat sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven verändert. Psychische Krankheiten werden ernst genommen und häufiger angesprochen, auch dank prominenter Vorbilder, die wie der Fußballer Sebastian Deisler oder die US-Sängerin Lady Gaga ihre Depressionen öffentlich machen. Die neue Sensibilität, die neue Bereitschaft, sich Hilfe zu suchen, wirkt sich aber auch auf die Knappheit der Therapieplätze aus.

Für die Bundespsychotherapeutenkammer bedeutet das vor allem: Es werden mehr Kassenzulassungen gebraucht - besonders in Vororten und auf dem Land, wo der Mangel am größten sei. Spahns Aussage, dass dort, wo es am meisten Therapeuten gebe, die Wartezeiten am längsten seien, wies die Kammer als "Irrtum" zurück. Das Gegenteil sei der Fall. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach pflichtet der Kammer bei: "Die Nachfrage ist über die Jahre gestiegen, jetzt müssen wir das Angebot anpassen." Zudem müsste die Behandlung schwerer psychischer Störungen besser vergütet werden als die leichterer Erkrankungen. Auch ein ganz neuer Ansatz könnte Erleichterung bringen: die Sprechstunden per Video oder Chat.

Auch wenn es kritische Stimmen gibt, dass solche Angebote den persönlichen Kontakt nicht ersetzen könnten und die Sicherheit der Daten kaum zu gewährleisten sei, könnten sie gerade für jüngere Patienten ein niedrigschwelliger Zugang sein. Außerdem: Selbst wenn neue Kassenzulassungen genehmigt werden, müssen sich erst einmal Psychotherapeuten dafür finden. Besonders in ländlichen Regionen könnte das schwierig werden. Das zeigt sich bei Hausärzten, die für ihre Praxen auf dem Land keine Nachfolger finden.

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Quelle:
SZ vom 15.12.2018
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