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Gesundheit - Wiesbaden:Gesundheitszentrum statt Ärztemangel

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Wiesbaden/Breitscheid (dpa/lhe) - "Breitscheid baut seine Zukunft" steht auf dem Plakat neben der Baustelle. Wo heute noch Bagger am Werk sind, soll im August das Gesundheitszentrum der kleinen Westerwald-Gemeinde eröffnen. Mieter: eine Apotheke und ein Hörgeräteakustiker, Tages- und Intensivpflege, ein Physiotherapeut, ein Bäcker, zwei Banken und: ein Ärztezentrum. Vier Mieter für die sieben Behandlungszimmer sind schon gefunden. Ein Konzept, das Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) am Mittwoch "beispielhaft" nannte.

Denn in vielen ländlichen Regionen Hessens wird Hausarztnachwuchs händeringend gesucht. Besonders großer Bedarf für Hausärzte besteht laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) Hessen etwa im Bereich von Allendorf und Sontra in Nordhessen sowie in Idstein (Rheingau-Taunus-Kreis). Verschiedene Projekte sollen dem Ärztemangel begegnen. In Nordhessen etwa tourt ein "Medibus", quasi eine mobile Praxis, durch die Orte. Verschiedene Förderangebote der KV sollen die Niederlassung attraktiver machen. Nicht immer reicht das aus.

Michael Saar, Allgemeinarzt in Breitscheid, ist 67 Jahre alt. Auch alle anderen Kollegen im Ort haben die 60 überschritten. Die Prognose, dass die Praxen verwaisen, weil niemand sie übernehmen will, "hat uns richtig erschüttert", berichtet der Arzt. Zusammen mit den Lahn-Dill-Kliniken und dem Landkreis entwickelte er die Idee für das "Landarztnetz". Die Ärzte sind bei einer GmbH angestellt. Sie können Teilzeit arbeiten, werden von Verwaltungsaufgaben entlastet, tragen nicht das finanzielle Risiko der Selbstständigkeit. Neun Ärzte versorgen aktuell an vier Standorten rund 7000 Patienten.

Saar hatte zu Beginn seiner Laufbahn Hunderttausende Euro Schulden und arbeitete nach eigenen Angaben 55 bis 60 Stunden die Woche. Seine Nachfolgerin ist Mutter dreier Kinder und wäre unter solchen Bedingungen nicht zur Verfügung gestanden. Im Gesundheitszentrum ist sie - wie aktuell drei weitere Ärzte - in Teilzeit dabei. "Gemeinsam haben wir einen Mietvertrag unterschreiben können, die jeder Einzelne von uns nie hätte unterschreiben können" sagt Saar.

Seit 2011 ist Breitscheid dran an seinem Gesundheitszentrum, berichtet Bürgermeister Roland Lay (parteilos). Ein erster Anlauf mit einem Investor aus Ostdeutschland scheiterte, 2017 gelang mit einem privaten, lokalen Investor der zweite Start. Sechs bis sieben Millionen Euro investiert Torsten German nach eigenen Angaben in das Zentrum. Im Juli 2019 wurde der Grundstein gelegt. Dank drei Existenzgründungen sind laut Bürgermeister im Gesundheitszentrum rund 30 neue Arbeitsplätze entstanden. Im Obergeschoss können die frisch eingestellten Pflegekräfte in Personal-Wohnungen einziehen.

Mit Geld und Expertise will das hessische Sozialministerium den Aufbau solcher Zentren auf dem Land fördern. Im Haushalt 2020 stehen laut Klose fast fünf Millionen Euro zur Förderung solcher Einrichtungen zur Verfügung. Außerdem werde eine Serviceeinheit im Ministerium aufgebaut, die die Akteure vor Ort berät und miteinander vernetzt: "Es muss ja nicht jeder Ort das Rad neu erfinden." "Die gesundheitliche Versorgung insbesondere älterer Menschen in ländlichen Regionen ist eine große Herausforderung", gab Klose zu: Immer weniger Fachkräften stünden immer mehr ältere Bürger gegenüber.

Am Beispiel Breitscheid zeigt sich auch, wie die Bundespolitik bis in den tiefsten Westerwald hineinreicht. Ein gesundheitspolitisches Grundproblem ist die strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung - also zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern. "Das wird in Zukunft auf dem Land nicht mehr funktionieren", sagte Landrat Wolfgang Schuster (SPD) und stieß damit beim Minister auf offene Ohren. "Sektorenübergreifende Konzepte sind ein wichtiges Versorgungsmodell der Zukunft", sagte Klose.

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