Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Todmüde ins Büro

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Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht. Doch aus medizinischer Sicht ist chronischer Schlafmangel keineswegs banal.

Von Werner Bartens

Wohl dem Bundesland, dessen Ministerpräsident in Sitzungen vor allem gegen eines zu kämpfen hat - exzessive Müdigkeit. Gerade offenbarte Baden-Württembergs Landesvater Winfried Kretschmann im Fernsehen, wie sehr ihm sein chronisches Schlafdefizit zu schaffen macht.

Er komme auf höchstens sechs Stunden Nachtruhe und nicke deshalb oft tagsüber ein, gab er zu. Damit repräsentiert der grüne Spitzenpolitiker allerdings eine satte Mehrheit, nicht nur die 30,3 Prozent der Menschen aus dem Südwesten, die bei der Landtagswahl für ihn gestimmt haben.

Krankheitstage häufen sich, der Produktionsausfall geht in die Milliarden

Etwa 80 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland leiden unter Schlafstörungen - 66 Prozent mehr als 2010. Die Krankenkasse DAK hat nun Zahlen für Schleswig-Holstein veröffentlicht. Daten für Hessen, Hamburg, Baden-Württemberg sowie eine bundesweite Hochrechnung erschienen erst kürzlich.

Demnach haben mindestens 34 Millionen Erwachsene Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen. Sie finden keine Ruhe, schrecken nachts auf oder werden zu früh wach. Als Folge fühlen sich 43 Prozent der Erwerbstätigen bei der Arbeit müde, 31 Prozent geben an, regelmäßig erschöpft zu sein. Krankheitstage häufen sich, der Produktionsausfall geht in die Milliarden.

Auch aus medizinischer Sicht ist chronischer Schlafmangel keineswegs banal. "Zu wenig Schlaf macht dick, dumm und krank" - prägnanter als im Bonmot des Schlafexperten Jürgen Zulley lassen sich die gesundheitlichen Folgen von zu wenig Nachtruhe kaum zusammenfassen. Schließlich wird bei fehlendem Schlaf der Stoffwechsel beeinträchtigt, sodass Übergewicht droht. Die Konzentration schwindet, Gedächtnisinhalte werden nicht mehr gut gespeichert. Zudem steigt die Anfälligkeit für Infektionen, da bei Schlafmangel die Immunabwehr gestört ist.

Doch woher soll Abhilfe kommen, wenn die Einsicht fehlt? Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht. Mit wenig Schlaf auszukommen, gilt nicht etwa als schädliche Schwäche, sondern - im Gegenteil - als Zeichen von Disziplin. Voll Bewunderung wird von Angela Merkels Zähigkeit berichtet, wenn sie weit nach Mitternacht ihren übernächtigten politischen Gegnern Zugeständnisse abringt. Doch will man das, übermüdete Ja-Sager? "Unsere Gesellschaft drängt das Thema Schlaf in eine Nebenrolle", sagt Ingo Fietze, Leiter des Schlafzentrums an der Berliner Charité.

Dabei lässt sich mit wenig Aufwand viel verbessern. Regelmäßige Zeiten für den Schlaf sind hilfreich, es ist sinnvoll, vor dem Zubettgehen zur Ruhe zu kommen. Laut DAK-Analyse sehen aber 83 Prozent der Erwerbstätigen vor dem Einschlafen Filme, 68 Prozent bearbeiten Laptop oder Smartphone. Statt wach zu sein, bevölkern apathische Kollegen Büros, Behörden und Fabriken. Auch 30 Minuten Mittagsschlaf täten Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Menschen gut. Dauert er länger, droht Tiefschlaf und daraus zu erwachen, ist nicht mehr erholsam. Doch so lange eine fasertiefe Siesta mit Müßiggang und Faulheit gleichgesetzt wird, lässt sich dieser Brauch in unseren Breiten wohl kaum durchsetzen. Dabei sind Menschen, die sich genug Schlaf gönnen, aufgeweckter - die anderen sind die Schlafmützen.

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Quelle:
SZ vom 26.04.2017
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