Süddeutsche Zeitung

Lebenserwartung:Optimales Übergewicht

Am längsten leben die Menschen mit einem BMI von 27. Nach Einschätzung der WHO bedeutet dieser Wert allerdings schon Übergewicht.

Von Werner Bartens

Wer lange lebt und selten krank wird, muss einiges richtig gemacht haben. Klar, Glück gehört dazu. Es gibt jedoch Faktoren, die nach landläufiger Arztmeinung dazu beitragen, besonders oft Geburtstag feiern zu können. Kein Tabak, wenig Stress, Zufriedenheit, genügend Schlaf, Bewegung und gemischte Kost gelten als Klassiker der gesunden Lebensführung - das richtige Gewicht wird auch häufig genannt. Gerade in dieser Hinsicht muss wohl schleunigst ein Umdenken einsetzen. Nicht Normalgewichtige leben am längsten, sondern jene, die mittleres Übergewicht auf die Waage bringen.

Ein bisschen rund ist gesund, Mollige leben länger - immer wieder gab es in den vergangenen Jahren entlastende Befunde zu vermelden. Jetzt zeigen Forscher aus Dänemark im Journal of the American Medical Association, dass es sich um einen lang anhaltenden Trend handelt.

In den vergangenen 40 Jahren ist der Body-Mass-Index (BMI), der mit der geringsten Sterblichkeit einhergeht, um 3,3 Punkte gestiegen. Lebten in den Siebzigerjahren Menschen mit Normalgewichts-BMI von 23,7 am längsten, sind es mittlerweile jene Zeitgenossen, die einen BMI von 27 und damit Übergewicht auf die Waage bringen.

"Übergewicht geht mit einer höheren Lebenserwartung einher", sagt die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser. "Bei Patienten mit Herzinfarkt, Krebs, Infektionen und auf der Intensivstation ist die Prognose besser, wenn sie Reserven haben - das hat sich immer wieder bestätigt." Die aktuelle Studie zeigt zudem, dass auch gesunde Nichtraucher länger leben, wenn sie einen BMI von 26,1 und damit etwas Übergewicht aufweisen.

Die Empfehlungen der WHO basieren auf veralteten Daten und sollten überarbeitet werden

Das Team um Børge Nordestgaard von der Uniklinik Kopenhagen wertete drei große Untersuchungen mit insgesamt mehr als 120 000 Teilnehmern aus, die von 1976 bis 1978, von 1991 bis 1994 und von 2003 bis 2013 in Dänemark in die Studien aufgenommen wurden. Dabei stand im Vordergrund, wie lang die Menschen lebten, wie oft sie krank wurden und welche Körpermaße sie aufwiesen. Der Trend, wonach der optimale BMI in den 1970ern noch 23,7 betrug, in den 1990ern schon bei 24,6 lag und sich mittlerweile bei 27 eingependelt hat, ließ sich auch dann nachweisen, als die Forscher Einflussfaktoren wie Geschlecht, Tabak- und Alkoholkonsum, Einkommen, Cholesterinwert und Freizeit einbezogen.

"Die Befunde zeigen, dass die WHO-Empfehlungen zur Definition von Übergewicht überprüft werden müssen", sagt Børge Nordestgaard. "Sie basieren auf Daten, die aus der Zeit vor 1990 stammen." Nach dieser fragwürdigen Einteilung liegt der BMI für Normalgewicht zwischen 18,5 und 24,9; Übergewicht liegt bei einem BMI von 25 bis 29,9 vor, Fettleibigkeit jenseits von BMI 30. Dass Menschen mit dem optimalen BMI von 27 nicht aus allen Fugen geraten, zeigen Rechenbeispiele: Wer 1,80 Meter misst, hat mit 87,5 Kilogramm diesen BMI-Wert erreicht, bei 1,90 Metern würden 97,5 Kilogramm einen BMI von 27 ergeben.

Doch nicht nur der optimale BMI-Wert ist nach oben geklettert. Die Risiken, mit noch höherem BMI früher zu sterben, sind ebenfalls deutlich gesunken. Als mögliche Erklärung führen die Forscher an, dass ein gesünderer Lebensstil und bessere Vorsorge und Diagnostik besonders in höheren Gewichtsklassen dazu beitragen, dass Menschen länger leben.

Was genau dazu führt, dass mehr Gewicht mit mehr Lebensjahren einhergeht, ist jedoch ungewiss. "Wir kennen zwar nicht die Kausalität", sagt Ingrid Mühlhauser. "Aber dem Diktat des Normalgewichts, das seit Jahrzehnten gilt, sollten wir uns nicht weiter unkritisch unterwerfen."

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SZ vom 11.05.2016
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