Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Fast nirgends in Deutschland gibt es so viele HIV-Diagnosen wie in München

  • Schätzungen zufolge infizieren sich jedes Jahr 3200 Menschen in Deutschland mit HIV. Alleine in Bayern wurden 2015 643 HIV-Erstdiagnosen gemeldet.
  • In München ist die Zahl der Ansteckungen im Vergleich besonders hoch.
  • Experten halten auch die Dunkelziffer für hoch, also die Zahl der Menschen, die gar nicht wissen, dass sie das Virus in sich tragen.

Von Felix Hütten

Er hat nichts von ihr behalten, außer dem tödlichen Virus. Ein bisschen flirten, ein bisschen knutschen, ein bisschen Sex, man kennt sich nicht, man trinkt zusammen, nicht mal an ihren Vornamen erinnert sich Thomas Meier (Name geändert). Nur daran, dass ein Kondom im Spiel ist, das am Ende reißt, aber so genau weiß er es nicht mehr. Wo sie wohnt? Keine Ahnung. Ihre Telefonnummer? Keine Ahnung. Thomas Meier ist 26 Jahre alt, Münchner, er lebt seit dieser Nacht mit HIV im Blut, dagegen hilft eine Pille, das Medikament Genvoya, jeden Tag 510 Milligramm, es soll das Virus unterdrücken, von nun an ein Leben lang.

Wie Thomas Meier infizieren sich jedes Jahr in Deutschland schätzungsweise 3200 Menschen mit dem HI-Virus, das das Immunsystem in die Knie zwingen und einen Menschen töten könnte, gäbe es nicht gute Medizin dagegen. Alleine in Bayern wurden im Jahr 2015 - aktuellere Daten gibt es nicht - 643 HIV-Erstdiagnosen gemeldet, das ist Platz zwei bundesweit, nur in Nordrhein-Westfalen sind es mehr. Ein Blick auf München verrät: In der Landeshauptstadt sind die Zahlen mit 230 Diagnosen besonders hoch, verglichen mit anderen Großstädten, 121 sind es in Köln, gerade mal 62 in Stuttgart. Nur in Frankfurt war die Zahl - gemessen an der Einwohnerzahl - ein kleines bisschen höher.

Doch HIV-Statistiken sind tückisch, für klare Aussagen braucht es einen genauen Blick auf die Daten. Zunächst unterscheiden Mediziner zwischen gesicherten HIV-Erstdiagnosen und Schätzungen zu Neuinfektionen. Ersteres sind Zahlen, die von Ärzten oder Beratungsstellen gemeldet werden. Allerdings können zwischen einer Infektion mit dem HI-Virus, das bei ungeschütztem Sex oder durch verunreinigte Nadeln übertragen wird, und einer Diagnose beim Arzt, also einem positiven Bluttest, oftmals Jahre vergehen. Viele Menschen wissen nicht, dass sie das Virus in sich tragen, es schlummert lange im Blut, bevor es krank macht. Die Zahl der Erstdiagnosen ist daher nur ein Anhaltspunkt für das Ausmaß des HIV-Problems, mehr nicht.

Hinzu kommen mit Blick auf Bayern und München regionale Besonderheiten. So ist die Zahl der Erstdiagnosen besonders bei heterosexuellen Menschen in keinem anderen Bundesland so deutlich gestiegen wie in Bayern. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass hier vor allem Patienten aus dem Ausland in der Statistik auftauchen. Experten des Robert Koch-Instituts sehen als Grund für diesen Anstieg die Zuwanderung von Geflüchteten, von denen 2015 ein Großteil über Bayern in die Bundesrepublik eingereist ist. "Viele dieser Menschen wurden wahrscheinlich in den Aufnahmeeinrichtungen ohne ihr Einverständnis getestet", sagt Viviane Bremer, Epidemiologin am Robert Koch-Institut (RKI).

Mehr Erstdiagnosen in kleineren Städten und Dörfern

Von den 643 Erstdiagnosen in Bayern betrafen 180 heterosexuelle Ausländer - mit Blick auf die Hunderttausende Flüchtlinge sei das wenig, sagt Bremer. "Das Gerede von einer HIV-Welle in Bayern, ausgelöst durch Flüchtlinge, ist Quatsch." Zum Vergleich: Bei Männern, die mit Männern Sex haben, verzeichnete das RKI in Bayern 242 Erstdiagnosen, davon 93 in München, 24 in Nürnberg, drei in Augsburg und 122 in ländlichen Gebieten.

Die letzte Zahl ist ein Hinweis auf einen weiteren Trend in Bayern: Die Erstdiagnosen in kleineren Städten und Dörfern werden mehr - bei hetero- wie homosexuellen Menschen. RKI-Expertin Bremer vermutet, dass dies zwei Gründe haben könnte: Zum einen könnte es sich um Asylsuchende handeln, die in Aufnahmeeinrichtungen getestet werden, zum zweiten um schwule Männer, denen neue Datingapps wie Tinder helfen, Sexpartner in ihrer Region zu treffen, statt in die Großstadt fahren zu müssen.

Doch unabhängig davon bleibt die Landeshauptstadt Anziehungspunkt für schwule Männer. München habe seit Jahren eine große Schwulenszene und daher schon immer höhere Meldezahlen gehabt als andere Städte, sagt Bremer. Auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere Berlin und Köln als Hotspots der Schwulenszene gelten.

Wo nicht getestet wird, gibt es auch kein Virus

Und heterosexuelle Menschen wie Thomas Meier? In Bayern wurden 30 Erstdiagnosen in der Statistik "heterosexuellen Menschen deutscher Herkunft" zugeordnet, acht davon in München - überschaubare Zahlen. Und doch: Das HI-Virus wird weiter kursieren, da sind sich alle Experten einig. Solange Menschen Sex haben, egal ob homo- oder heterosexuelle, werden sie dies auch mal ungeschützt tun, werden Kondome reißen, wird das schlechte Gewissen verdrängt. Hinzu kommt: Während schwule Liebespaare die Infektion mit HIV häufig problematisieren, ist unter heterosexuellen Partnern die Gefahr einer Ansteckung seltener ein Thema.

Es ist das Grunddilemma der Präventionsarbeit, letztlich auch das der Statistiken: Je geringer die Ansteckungszahlen, desto geringer scheint die Gefahr zu sein. In der Folge verhüten Menschen lax und lassen sich selten testen. Doch selbst wenn die Infektionszahlen niedrig sind, heißt es nicht unbedingt, dass nur noch wenige Menschen das HI-Virus in sich tragen. Anders formuliert: Wo nicht getestet wird, gibt es auch kein Virus, keine Daten, keine Warnungen.

Auch deshalb wird es die Zahl Null bei HIV-Diagnosen nicht geben, nicht solange schätzungsweise 13 000 Menschen in Deutschland, davon 1600 in Bayern, nichts von ihrer Infektion wissen. Nicht, bis es der Medizin gelingt, das Virus aus dem Körper eines Patienten zu vertreiben, oder, noch besser, es auszurotten. Und doch sind die Behandlungsmöglichkeiten gut. Sein Medikament Genvoya wirke zuverlässig, erzählt Thomas Meier. Er will seinen echten Namen nicht nennen, keine Unterlagen zeigen. Zu groß ist seine Angst, von Freunden und Chefs stigmatisiert zu werden. Nur wenige Menschen wüssten von seiner Infektion, und wenn es sein Arbeitgeber erfahre, sagt er, "bin ich raus".

Meier hat ganz andere Pläne, er will eine Familie gründen, er und seine Partnerin machen sich keine Sorgen: "Ich bin nicht giftig, auch wenn viele das glauben." Die Medikamente haben die Viren in seinem Blut massiv zurückgedrängt, sie liegen unterhalb der Nachweisgrenze, solange Meier seine Tabletten gewissenhaft schluckt, besteht keine Ansteckungsgefahr, für niemanden. Thomas Meier ist damit nur noch ein Pünktchen in der HIV-Statistik, mehr nicht.

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SZ vom 07.02.2017/bhi
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