Bericht des RKI:Wer arm ist, stirbt früher

In Deutschland sind fast alle Krankheiten ausgeprägter bei jenen, die sozial und finanziell abgehängt sind. Doch die Politik schaut nicht hin.

Ein Kommentar von Werner Bartens

Von Rudolf Virchow stammt der Satz, dass Medizin eine soziale Wissenschaft ist und Politik nichts weiter als Medizin im Großen. In Rufweite zu den Wirkungsstätten des großen Arztes und Sozialpolitikers Virchow hat das Robert-Koch-Institut gerade einen Bericht zur gesundheitlichen Lage vorgestellt. Auf mehr als 500 Seiten gibt er Auskunft über die Befindlichkeit im Lande. Es gibt Erfreuliches zu berichten. So stellen Herz-Kreislauf-Krankheiten zwar mit knapp 40 Prozent noch die häufigste Todesursache dar, doch die Sterblichkeit an diesen Leiden geht zurück. Krebs folgt mit 25 Prozent in der Todesursachenstatistik und nimmt absolut gesehen zu. Das liegt aber vor allem an einer älter werdenden Bevölkerung. Bezogen auf die jeweilige Altersgruppe sind Tumore nicht häufiger als früher.

In seinem Grußwort betont Gesundheitsminister Hermann Gröhe die medizinischen Herausforderungen durch den demografischen Wandel. Die sind in der Tat enorm, doch auch hier gibt es gute Nachrichten. Die Menschen werden nicht nur immer älter, ein wachsender Anteil erreicht ein hohes Alter in guter Gesundheit. Und auch jene mit chronischen Leiden profitieren - im statistischen Durchschnitt - von einer gestiegenen Lebensqualität.

Allerdings muss man bis Seite 488 des Berichts kommen, um zu erkennen, woran der deutsche Patient besonders leidet. Im Kapitel über die wichtigsten Ergebnisse betonen die Autoren zwei Aspekte: Mit der Überalterung der Bevölkerung wandeln sich die Krankheiten. Chronische Leiden nehmen zu - hier sind neben Infarkt, Schlaganfall und Krebs besonders Diabetes, Demenzen und rheumatische Erkrankungen zu nennen. Zudem nimmt die soziale Lage immer mehr Einfluss auf die Gesundheit. Diesen Aspekt erwähnt der Gesundheitsminister mit keinem Wort.

Wer wie lange lebt - darüber entscheidet der Status

Schon heute leben im wohlhabenden Sozialstaat Deutschland Frauen aus der untersten sozioökonomischen Schicht 8,4 Jahre kürzer als Frauen aus der obersten Einkommens- und Bildungsschicht. Bei Männern beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung sogar 10,8 Jahre. Eine enorme Differenz, angesichts derer sich das Risiko-Jo-Jo mit Cholesterin, Bluthochdruck und Übergewicht nahezu lächerlich ausnimmt. Es gilt das Makler-Motto: Lage, Lage, Lage. Fast alle Krankheiten sind ausgeprägter bei jenen, die sozial und finanziell abgehängt sind. Einzig stress-assoziierte Leiden wie Neurodermitis und Burn-out finden sich häufiger bei gebildeten Besserverdienern.

Medizin müsste heute mehr denn je soziale Wissenschaft sein, doch die Politik betreibt in Gesundheitsfragen nicht Medizin im Großen, sondern Kosmetik im Kleinen und Lobbyismus im Gigantischen. In Gesundheitsämtern und der öffentlichen Gesundheitsversorgung wurde hingegen das Personal im vergangenen Jahrzehnt um ein Drittel gestrichen. Institute für Public Health und Gesundheitswissenschaften werden kaputt geschrumpft. Die intellektuelle Infrastruktur dünnt aus, die drängende medizinische Probleme, die sich aus sozialen Differenzen ergeben, benennen und Lösungswege aufzeigen könnte.

Deutschland hinkt hinterher. Es setzt Schwerpunkte in der Grundlagenforschung, die oft genug das Leiden der Menschen aus dem Blick verliert. Klinische Studien, die erarbeiten, wie es den Menschen mit welcher Medizin geht, sind für ein Land von dieser Statur zumeist peinlich und insgesamt unterrepräsentiert. Für die Versorgungsforschung, die aufzeigt, wie die Menschen im Alltag mit Krankheit und Therapie zurechtkommen, gilt ähnliches. In der Medizin steht vor der Therapie die Diagnose. Will die Politik die wichtigste Diagnose jedoch nicht sehen, ist ihr nicht zuzutrauen, dass der deutsche Patient eine Chance zur Genesung bekommt.

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