Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Die Schnellreform der Pflege ist unrealistisch

Kanzlerkandidat Schulz will den "kompletten Neustart in der Pflege". Das klingt prima. Nur verschweigt er, woher die Mittel dafür kommen müssten.

Kommentar von Kim Björn Becker

Ohne eine gehörige Portion Idealismus geht es nicht, denn allein des Geldes wegen wird wohl kaum jemand Pfleger. Wenn es gut läuft, verdient eine Fachkraft in der Altenpflege knapp 2600 Euro brutto, in der Krankenpflege sind es 3100 Euro. Dafür ist der Job nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch psychisch belastend. Und weil das Personal in Pflegeheimen und Krankenhausstationen chronisch knapp ist, reiht sich oft ein Sonntagsdienst an den anderen. Gewiss, es mag erfüllend sein, anderen Menschen zu helfen. Aber Pfleger zu sein in Deutschland, das ist nicht nur eine harte Arbeit, sondern auch eine undankbare.

Es sah lange so aus, als würde der Bundestagswahlkampf an diesem Thema einfach vorbeiziehen wie eine Parade an einer dunklen Seitenstraße. Bis vor ein paar Tagen ein junger Pflege-Auszubildender Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der ARD-"Wahlarena" die Leviten las: Alexander Jorde stellte fest, dass die Würde der Alten und Kranken jeden Tag verletzt werde - weil es in Kliniken und Pflegeheimen am nötigen Personal fehle. So lägen die Patienten teils stundenlang in ihren eigenen Ausscheidungen, hielt er der Kanzlerin vor. Die verwies pflichtschuldig auf den jüngsten Großumbau der gesetzlichen Pflegeversicherung durch ihren Gesundheitsminister Hermann Gröhe.

Ein Kanzler Schulz will die Pflege reformieren - nur, kann er das?

Nun hat sich Merkels Herausforderer Martin Schulz (SPD) des Themas angenommen: Einen "Skandal" nannte er den Pflegenotstand am Montagabend in der ARD, im Falle eines Wahlsiegs strebe er einen "kompletten Neustart in der Pflege" an - mit mehr Personal, mehr Plätzen für Demenzkranke und 30 Prozent mehr Geld für die Pfleger. Die Forderungen sind gut und sie sind richtig, nur: Man kann sie eben nicht mit einem Handstreich erfüllen, schon gar nicht - wie von Schulz angekündigt - in den ersten 100 Tagen.

Ohne Zweifel ist es vor allem der chronische Personalmangel, der viele Pfleger in die Verzweiflung treibt. Weil sie ihre Arbeit zwar gut machen wollen, es aber nicht können. So bekommen Senioren Windeln übergestreift, statt dass man ihnen auf die Toilette hilft; so gibt man ihnen abends Medikamente zur Beruhigung, anstatt sich mit ihnen noch eine Weile zu beschäftigen.

Das hat nichts mit fehlender Empathie der Pfleger zu tun, ganz und gar nicht. Das Personal tut meist, was es kann. Doch trotz anhaltend lauter Forderungen gibt es in der Altenpflege noch immer keine bundeseinheitlichen Personalschlüssel, sie unterscheiden sich von Land zu Land. Und selbst dann kann es vorkommen, dass Heime die vorgeschriebenen Quoten unterlaufen, in Teilen wird das sogar geduldet. An diesem Punkt muss die nächste Bundesregierung dringend handeln und rasch feste Quoten vorgeben.

Bleibt die Frage, wie ein Kanzler Martin Schulz die versprochene Gehaltserhöhung für Pfleger erreichen könnte. Per Gesetz oder Verordnung kann schließlich keine Bundesregierung erreichen, dass eine Branche ihren Beschäftigten mit einem Mal ein Drittel mehr bezahlt - dafür sind die Tarifparteien zuständig.

Der einzige Hebel, den die Regierung hat, sind die Tarifverträge für Beschäftigte in kommunalen Krankenhäusern und Pflegeheimen: Bei entsprechenden Verhandlungen sitzt sie als Arbeitgeberin mit am Tisch. Wenn in kommunalen Häusern deutlich besser gezahlt würde, könnte das Druck auf andere Einrichtungen ausüben, die in der Hand privater und kirchlicher Träger sowie der Wohlfahrtsverbände sind. Damit die Rechnung aufgeht, müssten die Heime für jeden Pflegebedürftigen aber auch deutlich mehr Geld von der Pflegeversicherung bekommen. Und das geht kaum, ohne dass die Beiträge abermals angehoben werden. Darüber spricht im Wahlkampf natürlich niemand so richtig gern.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2017
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