Gesetz zur Zwangsbehandlung:Zu wenig Selbstbestimmung

Der Bundestag hat ein Gesetz verabschiedet, das es Psychiatern erlaubt, Menschen zwangsweise mit Medikamenten zu behandeln. Immerhin sind die Hürden dafür fortan sehr viel höher als bisher. Doch ein Gesetz, das die Betroffenen wirklich ernst nehmen würde, hätte auch ihre Selbstbestimmung stärken müssen.

Ein Kommentar von Nina von Hardenberg

Wahn und Genie können nah beieinander liegen. In besessener Arbeitswut malte Vincent van Gogh in zwei Sommermonaten 1889 eine Vielzahl von Meisterwerken, bevor er in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Robert Schumann, der seit frühen Jahren an Depressionen und Wahnvorstellungen litt, komponierte 1841 "in feuriger Stunde" in nur vier Tagen seine Frühlingssinfonie. Die Liste der Berühmtheiten, denen man psychische Leiden nachsagt, ließe sich fortsetzen.

Große Schaffenskraft und außergewöhnliche Kreativität können eine Kehrseite des Wahns sein, das haben Forscher nachgewiesen. Trotzdem fürchtet unsere Gesellschaft den Wahn. So sehr, dass wir die Menschen davon befreien wollen - notfalls auch gegen ihren Willen. Am Donnerstagabend hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das es Psychiatern erlaubt, Menschen zwangsweise mit Medikamenten zu behandeln, um ihre Anfälle des Irrsinns zu stoppen.

Nun darf man den Wahn nicht romantisieren. Viele Betroffene leiden schwer an ihrer psychischen Krankheit. Manisch kranke Menschen können sich in ihren Phasen der Selbstüberschätzung ruinieren, den Job und die Wohnung verlieren. Depressionen können Menschen in den Selbstmord treiben.

Bevormundent und nicht mehr zeitgemäß

Es ist völlig unbestritten, dass die medikamentöse Therapie aller Nebenwirkungen zum Trotz für die große Mehrheit dieser Menschen segensreich ist. Aber darf sie Patienten deshalb aufgezwungen werden? Nachdem zuletzt überall die Rechte der Patienten gestärkt wurden, wirkt ein Gesetz, das den Zwang legitimiert, bevormundend und nicht mehr zeitgemäß. Eine offene Gesellschaft kann sich damit auf die Dauer nicht zufrieden geben.

Der Gesetzgeber hat immerhin erreicht, dass die Hürden für die Zwangsbehandlung fortan sehr viel höher sein werden. Behandlungen gegen den Willen sind nur erlaubt, wenn damit ein drohender erheblicher Gesundheitsschaden für den Kranken abgewendet wird. Künftig muss außerdem ein Richter zustimmen. Der Arzt wiederum muss dokumentieren, dass er zunächst versucht hat, den Patienten freiwillig für die Therapie zu gewinnen.

Das sind sinnvolle Schutzmechanismen. Aber eben auch nicht mehr. Ein Gesetz, das die psychisch Kranken wirklich ernst nehmen würde, hätte explizit auch ihre Selbstbestimmung stärken müssen. Dieses Gesetz bleibt im Kern einem Fürsorge- und Schutz-Gedanken verhaftet. Der Patient soll vom Wahn befreit und vor dem zu schnellen Griff zur Spritze bewahrt werden.

Es fehlen aber Vorgaben, wie er besser in sein Recht gesetzt werden kann. Das könnte etwa durch die Verbreitung von Krisenpässen geschehen, in denen chronisch kranke Patienten festlegen können, wie sie bei einem neuen Krankheitsschub behandelt werden wollen.

Dabei ist klar, dass es immer Notsituationen geben wird, in denen sich der Arzt über den im Wahn geäußerten Willen des Patienten hinwegsetzen muss. Das gilt nicht nur, wenn sich ein Kranker selbst gefährdet. Welcher Arzt etwa kann dauerhaft mitansehen, wenn ein nierenkranker Patient im Wahn die Dialyse ablehnt und sein Körper somit langsam vergiftet?

Es geht öfter ohne Zwang als angenommen

Andererseits haben die Erfahrungen der vergangenen Monate, in denen das Verfassungsgericht Zwangsbehandlungen bis zu einer strengeren gesetzlichen Regelung verboten hatte, gezeigt, dass es viel öfter als angenommen auch ohne Zwang geht. Einzelne Kliniken etablierten eine neue Gesprächskultur und konnten so letztlich alle Patienten von dem Nutzen der Therapie überzeugen.

Auch das Verfassungsgericht hält die Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel für gerechtfertigt. Jede Behandlung gegen den Willen des Patienten sei ein schwerer Eingriff in die Grundrechte des Patienten, wertete das Gericht. Und es stimmt: Auch für Ärzte ist es eine Niederlage, wenn sie Patienten nicht zur Kooperation bewegen können. Es empört, dass gerade den Schwächsten und Wehrlosen Gewalt angetan werden darf, und sei es noch so sehr zu ihrem eigenen Wohl.

Gesellschaftlich kann das Gesetz darum nur der Anfang sein. Wer wirklich Zwangsbehandlungen verhindern will, muss nicht nur juristische Hürden setzen. Er muss die Psychiatrien selbst verändern, muss Kliniken so umbauen, dass Patienten Rückzugsräume haben, um zur Ruhe zu kommen. Wenn dann Ärzte und Pfleger noch besser im Umgang mit aggressiven Wahn-Patienten geschult würden und außerdem so zahlreich wären, dass sie sich für jeden Zeit nehmen könnten, käme es wohl automatisch kaum zu Zwang. Eine Gesellschaft ohne Zwang ist damit am Ende auch eine Frage des Geldes. Wer die psychisch kranken Menschen auch in ihrem Wahn ernst nehmen will, muss sich die Hilfen leisten.

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