Süddeutsche Zeitung

Geschlechterfeststellung:Puritanische Vorurteile jenseits aller Wissenschaft

In den USA soll das Geschlecht eines Kindes bald anhand der Genitalien bestimmt werden. Das ist rückwärtsgewandt und vor allem unsinnig.

Kommentar von Werner Bartens

Klar, unsere Existenz wäre entschieden leichter, wenn es nur ja oder nein, schwarz oder weiß, richtig oder falsch gäbe. Doch diesen binären Gefallen tut uns das Leben selten; meist findet es in Zwischentönen, Graustufen und einem aufregend anstrengenden Sowohl-als-auch statt. Für Männer und Frauen trifft das allemal zu; miteinander sowieso - aber auch dafür, wie jeder mit sich zurechtkommt. Seine Identität zu finden, war noch nie ganz leicht.

Umso schlichter und rückwärtsgewandter mutet daher der Plan des US-Gesundheitsministeriums an, Menschen strikt nach Männlein und Weiblein zu sortieren - und zwar abhängig davon, mit welchen Genitalien er oder sie auf die Welt kommt; eventuell sollen genetische Tests weiterhelfen. In dem nun bekannt gewordenen Entwurf heißt es, diese Festlegung des Geschlechts auf der Geburtsurkunde sei "klar, objektiv und wissenschaftlich begründet". Das klingt entschlossen eindeutig, doch eine solche Zuschreibung des Geschlechts weist drei bemerkenswerte Mängel auf: Sie ist weder klar, noch objektiv - und erst recht nicht wissenschaftlich begründet. Sie spricht vielmehr der Wissenschaft der vergangenen Jahrzehnte Hohn.

Die Medizin weiß schon lange von Varianten der sexuellen Entwicklung, hormonellen Veränderungen, genetischen Dispositionen und anatomischen Zweideutigkeiten, die - rein biologisch - eine eindeutige Festlegung des Geschlechts als unzulässige Reduktion erscheinen lassen. Derartige medizinische Ambivalenzen kommen immerhin bei einem von 100 Menschen vor. Und die gesellschaftswissenschaftliche Debatte kennt seit Jahren die Unterscheidung von Sexus - dem nach Körpermerkmalen vorherrschenden Geschlecht - und Gender, womit die soziale Konstruktion des Geschlechts benannt wird.

Das klingt ein bisschen nach Tiefbauamt, meint aber das Erleben der eigenen sexuellen Identität und Orientierung aufgrund kulturell-gesellschaftlicher Prägungen. Basierend auf diesen Erkenntnissen raten mittlerweile viele Fachverbände der Kinderärzte, zunächst abzuwarten und Patienten dann entsprechend dem Geschlecht zu behandeln, das diese bevorzugen - unabhängig von äußerer Erscheinung oder Genprofil.

Wenn die Trump-Administration nun per amtlicher Verfügung bestimmen will, wer aus welchen Gründen Mann und wer Frau zu sein hat, fällt das hinter alle Standards der Wissenschaft zurück. Es offenbart vielmehr puritanische Vorurteile nach dem Motto: Kenn ich nicht, mag ich nicht, will ich nicht. Den reaktionären Vorstoß als Ergebnis wissenschaftlicher Analysen darzustellen, ist besonders dreist. Aus Ideologie wird keine Wissenschaft, auch wenn man sie so nennt - und Identität lässt sich nicht per Dekret verordnen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4202157
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.11.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.