Geschichte des Krankenhauses:Wo das Spital gefürchteter war als der Tod

Es stank entsetzlich. Die Erreger hüpften von Bett zu Bett durch die riesigen Hallen voller Kranker und Siecher. Dennoch waren die Spitäler des Mittelalters in ihrer Zeit höchst fortschrittlich. Die Geschichte des öffentlichen Krankenhauses bis zur kriselnden kommunalen Klinik von heute.

Charlotte Frank

Die Lübecker Winterkälte schlägt zu wie eine Faust, sobald der erste Schritt die Stille im Langen Haus zerreißt. Stürzt sich aus den eisigen, kirchenschiffhohen Mauern auf den Besucher und krallt sich fest, bis der erschaudert und fühlt, mit welcher Kraft sich früher das Unsichtbare hier drinnen auf Neuankömmlinge geworfen haben muss.

Pestmaske aus dem 16. Jahrhundert

Ärzte schützten sich mit Pestmasken vor der gefürchteten Infektionskrankheit. Doch längst nicht jedes Krankenhaus hatte ein Pestlazarett.

(Foto: SCHERL)

Das Unsichtbare früher, im 13. Jahrhundert, muss ein atemberaubender Gestank gewesen sein, ausgedünstet von 150 Körpern auf engstem Raum. Das Unsichtbare waren die Schreie der Kranken, das Stöhnen der Alten, das Jammern der Armen. Es waren die Viren und Bakterien, die in der Hospitalhalle ungehemmt von Bett zu Bett hüpfen konnten, durch die engen Viererreihen, den fast 90 Meter langen Klinkerbau entlang - und dann zum Dachgebälk hinauf, von wo sich diese ganze unsichtbare, ungesunde Glocke betäubend über das Leben im Hospital legte. Das Unsichtbare muss ekelerregend gewesen sein. Es tat der Erfolgsgeschichte aber keinen Abbruch, deren Anfänge sich an wenigen Orten in Deutschland so gut beobachten lassen wie hier, im geisterhaften Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck: der Geschichte der öffentlichen Krankenhäuser.

Das Ende dieser Geschichte ist schnell erzählt: In Deutschland gibt es heute mehr als 2060 Kliniken, sie behandeln jährlich bis zu 36 Millionen Patienten und machen 70 Milliarden Euro Umsatz. Der Anfang braucht länger, um erzählt zu werden, kein Wunder: Er führt zurück bis ins Mittelalter, führt in Dreck und Armut, an Orte wie das Heiligen-Geist-Spital. Es lohnt sich also, dort oben zu beginnen, im eisigen Norden.

Lübeck, im Jahr 1285: Durch ihre günstige geografische Lage wächst die Wirtschaft und wächst der Reichtum der Stadt - doch, wie auch heute oft beklagt wird: Der soziale Zusammenhalt schrumpft gleichzeitig, Familien zerfallen. Plötzlich sieht sich Lübeck gezwungen, für jene zu sorgen, die nicht mithalten können, für die Armen und Alten, die Obdachlosen und Waisen. Also lassen Kaufleute das Heiligen-Geist-Hospital errichten, so eine gute Tat von Zeit zu Zeit kann ja nicht schaden - erst recht nicht, wenn sie im Sinne des Seuchenschutzes letztlich auch den Handel fördert.

Doch es wäre ungerecht, den Bau der Armenhospitäler allein auf wirtschaftliche Erwägungen zu schieben. Tatsächlich wird ihre Ausbreitung über Europa auf den Einfluss des christlichen Liebesgebots zurückgeführt, mit seinen Maximen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Mit öffentlicher Gesundheitsfürsorge dieser Art hatten viele andere Kulturen nichts im Sinn gehabt - nicht einmal die auch medizinisch viel höher entwickelten Gesellschaften der Antike: Die Asklepien der Griechen und Römer waren bloß Pilgerherbergen bei den Heiligtümern des Heilgottes Asklepios. Ebenso wenig gehen die römischen Valetudinarien als Vorläufer des Hospitals durch - dienten sie doch nicht der karitativen Hilfe für Arme und Kranke, sondern der ökonomischen Wiederherstellung kostbarer Arbeitskraft von Sklaven und Legionären.

Durcheinander von Pfründnern, Waisen, "liederlichen Weibern"

Erst mit Entfaltung des Christentums verliehen Mönche solchen Häusern den Charakter sozialer Einrichtungen. Erstmals soll um 368 nach Christus Bischof Basilius der Große in Caesarea, dem heutigen Kayseri in der Türkei, ein Haus für Arme und Kranke unterhalten haben. Im 10. Jahrhundert gab es in Byzanz beaufsichtigte Anstalten für Bedürftige, später gründeten in Jerusalem Orden wie die Johanniter Krankenpflege-Stätten, in denen unter anderem die Ritter der Kreuzzüge eine für sie ungekannt gute Versorgung erfuhren. In der arabischen Welt waren Heilkünste verbreiteter als im christlichen Westen. Das alles erzählten die Ritter eifrig weiter, bis sie Ende des 13. Jahrhunderts wieder aus dem Heiligen Land vertrieben wurden - und trugen so maßgeblich zur Verbreitung der Hospitalidee im Abendland bei.

Aber die Hygiene! Sie war von Anfang an ein Problem: Kamen die einen ins Hospital, weil sie krank waren und arm, so kamen die anderen, weil sie arm waren - und meistens bald auch krank. Die Erkenntnis, dass das Durcheinander von Pfründnern, Waisen, "liederlichen Weibern" und Kranken nicht die beste Idee war, führte ab dem 17. Jahrhundert dazu, dass sich die Hospitäler von der allgemeinen Armenfürsorge stärker der reinen Krankenpflege zuwendeten. Wieder waren es Kirchenmänner, vor allem der Orden der Barmherzigen Brüder, die diesen Wandel prägten. In ihren Häusern bekam jeder Kranke ein eigenes Bett und frische Laken. Auch schrieben die Ordensregeln vor: "Der Medicus und der Chirurgus werden die Kranken des Tages zwey mal besuchen." Es gilt als Verdienst der Barmherzigen Brüder, dass ab dem 17. Jahrhundert der Einsatz von Ärzten im Hospital von einer Möglichkeit zur Selbstverständlichkeit wurde.

Und noch etwas haben die Deutschen den Barmherzigen Brüdern zu verdanken: Die Charité, eine der bis heute angesehensten Kliniken Europas, wurde Anfang des 18. Jahrhunderts nach dem Vorbild des Pariser Hospitals des Ordens geplant. Ausgerechnet das stolze Berlin hinkte damals anderen Städten in Punkto Krankenfürsorge hinterher. Nicht mal ein großes Pestlazarett gab es, wie es etwa Augsburg, Leipzig oder Hamburg längst hatten. Aber nun holten die Preußen gleich richtig aus: Das 1710 als Pesthaus geplante Gebäude wurde 1727 zum Hospital mit 200 Betten erweitert. In der Charité mussten Patienten erstmals nicht mehr in hallenartigen Sälen ihre Qualen und Infektionen miteinander teilen, sondern es wurden Zehn- bis Zwölfbettzimmer eingerichtet.

Doch die Zeit und das, was sie ab Ende des 18. Jahrhunderts mit den Menschen anrichtete, ließ die moderne Charité bald alt aussehen: Durch die einsetzende Industrialisierung nahm die Verelendung des Proletariats verheerende Ausmaße an. Die Landbevölkerung strömte hungrig in die Städte, die Schar der Bedürftigen wuchs täglich.

Mit dem Merkantilismus kamen fremde Krankheiten nach Europa, Seuche um Seuche fraß sich durch das Leben der Menschen. So war die Charité bald hoffnungslos überfüllt, es grassierten Krätze und Wundfieber, und die Patienten infizierten sich so eifrig gegenseitig, dass bald gespottet wurde, die Charité tue mehr für die Dezimierung der Bevölkerung als anderswo die Guillotine. Entsprechend gefürchtet waren auch die Militärlazarette fast aller Staaten, obwohl diese doch versuchten, die Kampfkraft der Soldaten wiederherzustellen. Lazarette gab es daher schon, als eine öffentliche Krankenfürsorge für Zivilisten noch in den Anfängen steckte.

Seuche um Seuche fraß sich durch das Leben der Menschen

Die Idee aber, dass diese Zustände - um die es in anderen Häusern nicht besser stand - mit mangelnder Lüftung und schmutzigen Händen der Ärzte zu tun hatten, galt damals als abwegig. Als Ursache für Wundfieber-Epidemien etwa erfand man zwei Stoffe: Die "Miasmen", die man fauligen Böden entsprungen wissen wollte, und "Kontagien", ominöse Luftpartikel. Der Wiener Geburtshelfer Ignaz Philipp Semmelweis aber ahnte, dass Krankheiten von den Händen der Ärzte auf Wöchnerinnen übertragen wurden, und verlangte von seinen Kollegen seit 1847, sich zu desinfizieren. Er blieb ein Einzelkämpfer.

Kein Wunder, dass die "Staatskrankenanstalten" bis ins 19. Jahrhundert hinein Versorgungsstätten des Proletariats blieben. Wer es sich leisten konnte, rief den Arzt lieber zu sich nach Hause. Das sollte sich bald ändern, und verantwortlich dafür war der rasante Fortschritt der Medizin: Die 1846 entdeckte Narkose eröffnete neue Felder wie die Bauchchirurgie, förderte den Ausbau von OP-Sälen, die Anschaffung moderner Geräte sowie den stationären Verbleib von Patienten. Gestärkt wurden die Spitäler auch durch die Gründung von Unikliniken, die ihre Ärzte vermehrt am Patientenbett ausbildeten.

Parallel zum medizinischen Fortschritt entfaltete Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee eines "Rechts auf Gesundheit", wie sie der berühmte Arzt Rudolf Virchow formulierte, ihre Kraft. Nicht nur die Ärzte des Biedermeier zeichneten sich durch großen sozialen Einsatz aus. Auch in der Politik wurde vor dem Hintergrund der Kantschen Sittenlehre mit ihrem Kern der Achtung vor der Würde des Menschen erstmals der Anspruch an den Staat formuliert, die Gesundheit seiner Bürger zu sichern. So erlegte etwa Preußens Regierung im Jahr 1835 Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern die Bildung von "Sanitäts-Kommissionen" auf. Gleichzeitig bekamen die Kirchen das Recht auf die Gründung eigener Wohltätigkeitsanstalten, sodass zahlreiche konfessionelle Kliniken entstanden.

Endgültig zu Bürgerkrankenhäusern wurden die Spitäler mit dem Siegeszug der Bakteriologie: Ende des 19. Jahrhunderts war es endlich gelungen, die Überträger der übelsten Infektionskrankheiten wie Lepra, Pest, Cholera oder Tuberkulose zu klären. So kam heraus, dass sich die abschreckenden Krankenhaus-Seuchen durch simple Techniken wie Desinfektion und Sterilisation bekämpfen ließen.

Die neuen Gebote der Krankenhaushygiene ließen sich in jedem Gebäude durchführen. So wuchsen die Häuser ungebremst in die Höhe und in die Breite, getragen von medizinischem Fortschritt, politischer Fürsorge und gesellschaftlicher Akzeptanz. Und wie sie wuchsen - aber das Ende der Geschichte, es ist ja schnell erzählt: Aus der Charité ist heute die größte Klinik Europas geworden, in der jedes Jahr 130.000 Patienten stationär versorgt werden.

Und das Heiligen-Geist-Hospital in Lübeck? Ist heute ein Museum, zum Teil jedenfalls. Der andere Teil ist ein Heim für alte, pflegebedürftige Menschen - und erinnert damit daran, wie alles begann: mit der Sorge um diejenigen, die sich nicht mehr alleine helfen können.

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