Geschichte der Malariaforschung:Menschenversuche um den Mückenstich

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Das Afrikakorps hatte wie viele andere Armeeeinheiten mit Malaria zu kämpfen. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Syphiliskranke, Straftäter und Soldaten mussten für Versuche herhalten: Die Kriege des 20. Jahrhunderts befeuerten die Malaria-Forschung auf teils perfide Weise. Jetzt könnte die verzweifelte Suche einen lange ersehnten Erfolg haben.

Von Berit Uhlmann

Artilleriefeuer grollte über die steinige Landschaft im Nordwesten Tunesiens. Es war im Frühjahr 1943, die amerikanischen Truppen versuchten dem deutschen Afrikakorps den strategisch wichtigen Hügel 609 zu entreißen. Doch inmitten von Granaten, Geröll und Grauen musste die Hälfte der US-Soldaten innehalten: Die Männer spien das Truppenessen auf die Uniformen, krümmten sich unter Bauchkrämpfen und Durchfällen. Sie kämpften mit Atebrin, dem einzigen Medikament zur Malaria-Prophylaxe, über das die US-Armee damals verfügte und das sie schlechter zu dosieren wusste als die Wehrmacht. Es zog den Amerikanern heftiger den Magen zusammen, löste bisweilen Psychosen aus oder Ausschläge, die Haut schälte sich in großen Stücken vom Körper.

Jahrtausendelang hatte der Mensch wenig bis gar nichts Verträgliches zur Verfügung, um sich vor dem Wechselfieber zu schützen. Jetzt, 2015, könnte erstmals ein Impfstoff zugelassen werden. Es wäre ein Meilenstein in einer langen, von Kriegen und Gräuel geprägten Suche.

Die grausamen Kapitel begannen in den Spitälern des frühen 20. Jahrhunderts, wo Syphiliskranke ihrem Ende entgegen dämmerten. Die Geschlechtskrankheit hatte auf ihr Nervensystem übergegriffen, lähmte, verwirrte, enthemmte die Patienten. Sie bekamen manchmal auch Fieber und ihre Ärzte bemerkten verwundert, dass sich die Neurosyphillis anschließend oft besserte. Könnte man sich diesen Umstand nicht zunutze machen?

Der Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg wagte es. Er infizierte Syphilitiker mit dem Blut von Malariakranken, auf dass die Geisteskranken hohes Fieber bekamen. Wurde die Fieberkur frühzeitig begonnen, ließ sie fast 85 Prozent der Patienten von der Neurosyphilis genesen, resümierte Jauregg, als er 1927 den Nobelpreis für Medizin entgegennahm. Die Auszeichnung adelte die Methode - und ließ Tropenmediziner aufmerken.

Syphiliskranke als Ersatz für Labortiere

Denn wer sich mit Malaria befasste, stand vor dem Problem, dass die üblichen Labortiere nur schwerlich zur Erforschung der Krankheit taugten. Die verwirrten Opfer der Lustseuche, von beschämten Familien in Asylen versteckt und vergessen, waren nun hochwillkommen. Die Psychiater hätten hier "ein Material in Fürsorge", das ihnen auch "manche Fragen der Malariabehandlung zu studieren erlaubt", schrieb der deutsche Nervenarzt Franz Sioli 1926. Mit "Material" meinte er Menschen.

In England, Deutschland und den USA zogen Tropenmediziner durch die Spitäler, um die dementen Syphilis-Kranken mit Malaria zu infizieren. Und es dauerte nicht lange, bis Jaureggs strenge Standards aufgeweicht wurden. Bald wurde nicht mehr kontrolliertes, infiziertes Blut übertragen, sondern es wurden "Mückenställe" errichtet und die Probanden Hunderten von Insektenstichen ausgesetzt. Wenig später wurden nicht nur Syphilis-Patienten, sondern auch andere Geisteskranke mit Malaria infiziert, obwohl sie, nach allem was man selbst damals schon wusste, nicht von der Fieberkur profitierten.

Die Dämme brachen ganz, als der Zweite Weltkrieg begann und Soldaten auch in Malaria-Gebieten kämpften. "Das wird ein sehr langer Krieg werden, wenn für jede Division, die ich gegen die Japaner kämpfen lasse, eine weitere mit Malaria im Lazarett liegt und eine dritte sich in Neuseeland erholen muss", sagte Douglas MacArthur, amerikanischer Oberbefehlshaber im Pazifikkrieg, 1942. Ein Jahr später machte die Malaria in seinen Truppen achtmal mehr Soldaten kampfunfähig als feindliche Angriffe. Damals war längst klar: Wer die Malaria besiegt, hat auch den Krieg gewonnen.

Unter dieser Prämisse begannen die USA 1941 ein gigantisches, streng geheimes Forschungsvorhaben. Die Wissenschaftsautorin Karen Masterson vergleicht es in ihrem aktuellen Buch "The Malaria Project" mit dem Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe. Es schweißte in einem "nie dagewesenen Maße" Medizin und Industrie zusammen, schreibt die Pharmazeutin Ute Jutta Götz in ihrer Abhandlung "Im Wettlauf gegen das Wechselfieber". Hunderte der besten Wissenschaftler des Landes forschten in Laboren und in Spitälern. Allerdings verloren die Tropenmediziner bald das Interesse an den Geisteskranken, bei denen Grundkrankheit und Nebenwirkungen der Experimente nicht immer klar zu unterscheiden waren. Und so begann ein weiteres bizarres Kapitel der Malaria-Forschung.

Menschenversuche im KZ

Spitzenforscher der USA schlugen ihre Labore in Gefängnissen auf. Sie offerierten Schwerverbrechern den Obolus von 50 Dollar, sechs Monate Straferlass und eine Urkunde, die ihnen bescheinigte, Bedeutendes für die Menschheit geleistet zu haben. Die Leistung der meisten bestand im Erdulden von Fieberschüben und Medikamenten mit unklaren Nebenwirkungen. Einige assistierten bei einfachen Laborarbeiten; ein Häftling forschte selbst. Er entwickelte eine statistische Methode zur Auszählung der Malaria-Parasiten in Blutproben, die es bis zur wissenschaftlichen Veröffentlichung brachte.

Dass sein Name auf dem Artikel fehlte, war wohl bedacht: Der Autor war der berüchtigste Mörder seiner Zeit. Nathan Leopold hatte mit einem Freund ein Kind ermordet, nur um zu sehen, ob sie ungeschoren davon kommen würden. "Verbrechen des Jahrhunderts", nannten Zeitungen die Tat; Alfred Hitchcock verfilmte sie in "Cocktail für eine Leiche". Für den Mörder wurde das Malaria-Projekt zur Chance seines Lebens. Er schmeichelte sich bei den Forschern ein, ließ sich Empfehlungsbriefe schreiben, berichtete in den Medien wortreich von seinen Verdiensten für die Wissenschaft. Es zahlte sich aus. Seine lebenslange Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Deutschland trieb seine menschenverachtende Forschung noch weiter. 1942 begann der Mediziner Claus Schilling Menschenversuche im KZ Dachau. Etwa 1200 Insassen infizierte er mit Malaria, zwischen 300 und 400 von ihnen starben, schreibt die Historikerin Marion Hulverscheidt in der Aufsatzsammlung "Man, Medicine and the State". Am Kriegsende - er war 74 Jahre alt - saß Schilling mit seinen Kladden voller Forschungsdaten noch immer in Dachau und hoffte, die Fachwelt sei an seinen Erkenntnissen interessiert. Das war sie nicht, der Mediziner wurde 1946 hingerichtet.

Die Forschungsbilanz all der Versuche mit Tausenden Menschen in mehreren Ländern war in erster Linie eine lange Liste mit Nebenwirkungen der getesteten Mittel: Die Teilnehmer litten unter Wahnvorstellungen, Depressionen und Alpträumen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, sie mussten Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme und verschwommenes Sehen erdulden. Ihre Haut war von eitergefüllten Pusteln entstellt, sie färbte sich bisweilen gelb, manchmal auch blau, weil ihrem Blut Sauerstoff fehlte. Doch so viel die Forscher auch ausprobierten: Ein Versuch blieb so wirkungslos wie der andere.

Während deutsche wie amerikanische Wissenschaftler zunehmend verzweifelter experimentierten, lag die Lösung längst in ihren Schubladen. Es bedurfte allerdings erst einer Kriegsbeute, um die Forscher in ihre eigenen Archive zu schicken. 1943 fiel den Amerikanern ein Malaria-Medikament in die Hände, das die Deutschen in Nordafrika testeten. Die klügsten Köpfe der Malaria-Forschung eilten in die Labore, um die Chemikalie zu analysieren - und schlichen peinlich berührt wieder hinaus. Die erbeutete Substanz entpuppte sich als Sontochin, eine Chemikalie, die bereits 18 Monate zuvor in den USA getestet, für aussichtsreich befunden und patentiert worden war. Doch offenbar waren die Unterlagen versehentlich unter die hoffnungslosen Kandidaten der Forschung einsortiert worden.

Nun aber machten die US-Wissenschaftler ihre Arbeit gründlich. Sie untersuchten das erbeutete Mittel erneut und stießen auf seinen engen Verwandten Chloroquin. Und da war es, das lange gesuchte Zaubermittel: Wirksamer und verträglicher als alles bisher Dagewesene, eignete sich das Medikament auch zur Vorbeugung. Für die deutschen Malaria-Forscher war die Entdeckung ebenso peinlich: Sie hatten Chloroquin schon 1937 zum Patent angemeldet, doch aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen für toxisch befunden und statt dessen auf das weniger wirksame Sontochin gesetzt.

Dem wiederentdeckten Chloroquin war zunächst eine steile Karriere beschieden. Doch schon bald wurden die Erreger gegen das Mittel resistent. Es musste ein neuer Krieg beginnen, um die Arbeit an weiteren Medikamenten anzukurbeln: Im Vietnamkrieg ließ Mao Tse-tung seine Wissenschaftler auch das Arsenal der Volksmedizin durchsuchen. Sie stießen auf das Beifußgewächs Artemisia annua, aus dem im Laufe der 1970-er Jahre das Medikament Artemisinin extrahiert wurde. Das Medikament ist heute die wichtigste Waffe gegen Malaria.

Doch die Geschichte wiederholt sich: In fünf Staaten Südostasiens sind nun besorgniserregende Resistenzen dokumentiert worden. Experten fürchten ein Übergreifen nach Afrika, wo heute 80 Prozent aller Malaria-Fälle auftreten. 440.000 afrikanische Kinder sterben jährlich noch vor ihrem fünften Geburtstag an der Infektionskrankheit.

An diesen besonders gefährdeten Kindern wurde auch der bislang aussichtsreichste Impfstoffkandidat RTS,S getestet. Er ist weit entfernt von dem Zaubermittel, auf das die Welt lange hoffte. In bisherigen Studien schützte er nur knapp die Hälfte der Kinder. Dennoch: Der Impfstoff scheint gut verträglich. Angesichts der langen, verzweifelten und teils perfiden Suche nach einer sicheren Prophylaxe gilt dies als großer Erfolg.

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