Geschichte der Hygiene:Von der Deutungshoheit über die Hautpore

Gewaschen wurde allenfalls, was aus der Kleidung herausragte: Die Pest ließ Europa für Jahrhunderte verdrecken. Heute machen Seifenhersteller mit der Angst vor Keimen ein Riesengeschäft. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie relativ der Begriff der Hygiene ist - und, dass das Pendel immer zurück schlägt.

Viola Schenz

Lady Mary Wortley Montagu lebte von 1689 bis 1762, für ihre Zeit war sie eine untypische Frau: Schriftstellerin, Dichterin und Weltreisende, die ihren Mann, den britischen Gesandten am Osmanischen Hof, 1716 nach Konstantinopel begleitete. Als sie dort eines Abends ins Theater ging, so die Anekdote, bemerkte ein türkischer Besucher bei ihrem Anblick: "Wie schmutzig Ihre Hände sind, Mylady!" Die Lady antwortete: "Was würden Sie erst über meine Füße sagen!" - und reagierte damit sehr typisch für ihre Zeit.

Badetag

Früher gab es den Badetag: Einmal in der Woche wurden die Wanne aufgestellt. Heute haben viele amerikanische Familien ein Badezimmer pro Mitglied.

(Foto: SCHERL)

Was den Türken anwiderte, war für die Britin normal. Schmutz ist relativ - damals wie heute. Jede Epoche, jede Zivilisation setzt ihre eigenen Hygienestandards und zieht die der anderen, nun ja, gerne in den Dreck. Die Ägypter blickten herab auf ihre Nachbarn im Norden, die Griechen, weil die ihre staubigen Körper nicht in einem Fluss wie dem Nil, sondern in Wannen, in stehendem Wasser, säuberten.

Die Römer klauten den Griechen nicht nur die Baukunst, sondern auch die Badekultur, trieben die dann aber zum Exzess. Tagelang hingen sie in ihren Badepalästen ab zwischen Saunen, Saufen und Sex. Wie in Japan, Finnland oder der Türkei heute war das Säubern im alten Rom eine höchst gesellige Sache. Modernen Amerikanern dagegen wäre das Baden in der Menge ein Graus, wie ihnen überhaupt Körperkulturen im Rest der Welt suspekt sind.

Wie Menschen sich säubern und was sie für sauber halten, beruht selten auf rationalen oder gar wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern ist geleitet von Irrtümern und Vorurteilen, von Konventionen und vor allem von Konfessionen. Wohl kaum etwas hat die westliche Hygiene so stark geprägt wie der christliche Glaube - respektive nicht geprägt. Jesus sprach von der Reinheit der Seele, von der Reinheit des Körpers sagte er nichts. Das hatte Folgen. Alle großen Religionen kennen Reinigungsrituale: Muslime waschen sich vor dem Freitagsgebet, Juden befolgen am Sabbath komplizierte Reinheitsgebote, Hindus baden im - heute ziemlich verdreckten - Ganges, buddhistische Mönche starten putzend in den Tag.

Und die Christen? Ihre Prediger glichen dem Zauberer Catweazle aus der britischen TV-Serie; zerlumpt und verlaust wanderten sie durchs Frühmittelalter und redeten von inneren Werten. Die heilige Paula von Rom (347 - 404) appellierte an ihre Nonnen: "Ein sauberer Körper und ein sauberes Kleid bedeuten eine unsaubere Seele." Beim Baden oder Umziehen bestünde ja die Gefahr, den eigenen Körper kennen und womöglich mögen zu lernen.

Die Pest setzte dem Badehaus ein jähes Ende

Gläubige Christen tippen beim Betreten der Kirche kurz ins Weihwasser, vom einstigen Untertauchen bei der Taufe ist gerade mal ein Benetzen der Babystirn übrig geblieben. Morgenländler konnten sich über Abendländler nur wundern. "Sie waschen sich nie, weil ihnen bei ihrer Geburt hässliche Männer in schwarzen Gewändern Wasser über den Kopf schütten", beobachtet ein arabischer Gärtner in "Tausendundeine Nacht": "Begleitet von seltsamen Gesten, befreit sie das für den Rest ihres Lebens vom Waschen."

Doch mitunter sind Annehmlichkeiten stärker als der Glaube. Ausgerechnet die Kreuzfahrer, die Jerusalem vor den Ungläubigen retten wollten, brachten deren Sitten zurück nach Europa, in Form des Hamams. Wer im Mittelalter etwas auf sich hielt, holte sich arabischen Luxus ins europäische Haus, tauchte in Heißwassertrögen unter, ließ sich die Haut von Dampf aufweichen.

Die unteren Stände besuchten öffentliche Badehäuser, europäische Ortsnamen wie Baden oder Bath zeugen von dieser Zeit. Dienstherren zahlten dem Personal ein Badegeld, erst später kam das Trinkgeld auf. Doch um Körperreinigung ging es in den Badeanstalten bald nur noch am Rand. Den Römern gleich wurde dort gegessen, gesoffen, gesungen, gespielt und anderen Dingen gefrönt - alles möglichst unbekleidet. "Alle, die Liebe machen wollen, die heiraten wollen oder sich anderem Vergnügen hingeben, sie alle kommen hierher, wo sie finden, was sie suchen", beobachtete der Florentiner Schriftsteller Gian Francesco Poggio 1414 im schweizerischen Baden.

Zu der Zeit war der Höhepunkt des lustig-unkeuschen Treibens freilich schon überschritten. Die Pest zog seit 1347 durch Europa, das öffentliche Leben kam in weiten Landstrichen zum Erliegen. Wer von den eitrigen Beulen verschont blieb, verschanzte sich daheim; ins Badehaus zog es niemanden mehr - schon weil die Pest als Strafe Gottes für diesen Sündenpfuhl gesehen wurde. "Vor 25 Jahren gab es in Brabant nichts Modischeres als öffentliche Bäder", notiert Erasmus von Rotterdam 1526, "heute gibt es keine mehr, die neue Plage hat uns gelehrt, sie zu meiden."

Seit Beginn der Kreuzzüge 1095 hatte das Wasser im Abendland Vergnügen bereitet, es stand für Geselligkeit, Versuchung, bisweilen auch Sauberkeit. Nach einem halben Jahrtausend war Schluss damit. Was nun folgte, schreibt Katherine Ashenburg in "The Dirt on Clean", einer Hygienegeschichte der Menschheit, waren "die beiden dreckigsten Jahrhunderte in der Geschichte Europas".

Nicht nur die dreckigsten sollten es werden, sondern auch die bizarrsten. Es ging von da an vor allem um die Hautpore und um die Frage, ob diese offen oder verschlossen sein solle. Mit der Pest und anderen Seuchen kam die These auf, verstopfte Poren hielten die Körpersäfte "im Gleichgewicht" und schützten den Körper vor eindringenden Krankheiten.

Ein Kind wurde frühestens mit sieben Jahren gebadet

Solcher Nonsens verbreitete sich in ganz Europa. Patrick Süskind lässt in seinem Erfolgsroman "Das Parfum" den Forscher Marquis de la Taillade-Espinasse eine "Fluidum-Letale-Theorie" entwickeln, wonach die Erde schädliche Gase ausstößt. Der Bann solcher Gefahr lag - buchstäblich - auf der Hand: Was verstopft die Poren besser als Schweiß und Staub? Wer es sich leisten konnte, rieb zusätzlich teure Salben und Öle auf die Haut - alles war gefragt, nur kein porentief reinigendes Wasser, nicht mal und schon gar nicht bei Hofe.

Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert liefen Könige und Fürsten genauso übel riechend durch ihre Schlösser wie ihre leibeigenen Bauern über die Äcker. Die englische Monarchin Elisabeth I. (1533 - 1603) wusch sich immerhin einmal im Monat, "ob ich es nötig habe oder nicht", wie sie fand. Ihr Nachfolger James I. beließ es beim Benetzen der Finger, ganz nach dem Motto seiner Zeit: Man wäscht, was man außerhalb der Kleidung sieht.

Als 1601 der künftige Ludwig XIII. von Frankreich auf diese Schmutzwelt kam, dokumentierte der Hofarzt die Waschgeschichte des Kindes. Mit sechs Wochen wurde sein Kopf massiert, mit sieben Wochen der Milchschorf mit Butter und Mandelöl eingerieben, im Alter von fünf wurden seine Beine erstmals gewaschen, mit knapp sieben musste er sein erstes Bad nehmen.

Aber auch das ließ sich inzwischen leicht vermeiden, denn ein neues Hilfsmittel kam auf: das Leinenhemd. Direkt auf der Haut getragen, sollte es Schweiß und Schmutz absorbieren und das riskante porenöffnende Bad ersetzen. Manche Leinenträger wechselten es regelmäßig, andere trugen es, bis es sich aufrieb - natürlich ohne jemals mit Wasser in Berührung gekommen zu sein. Bald galten die Schweißtücher als Statussymbol, Porträts aus jener Zeit lassen die weiße Leinenunterwäsche unter wollenen Ärmeln und Kragen vornehmer Damen und Herren hervorlugen.

Die Hygiene verbesserte das natürlich keinesfalls, im Gegenteil. Die Menschen waren damals eine einzige olfaktorische Zumutung. Irgendwann wurde ihr Gestank unerträglich, wer das Geld hatte, griff zu Parfum und Puder. Europas Mief macht Jean-Baptiste Grenouille im "Parfum" zum Duftkreateur und schließlich zum wahnsinnigen Mörder.

Doch das Waschen kehrte im späten 18. Jahrhundert zurück nach Europa, allerdings mit anderer Temperatur, und diesmal aus England, als Entdeckung des dortigen Landadels. Wenn Dreck die Poren verstopft, kann Kohlendioxid nicht dem Körper entweichen, lautete nun die neue Lehre. Experimente mit geteerten Pferden, die elendig verreckten, dienten als Beweis. Was also konnte besser sein für die Gesundheit, als in Wasser zu tauchen, am besten in fließendes, mineralhaltiges, in Flüsse und Quellen?

Saubermänner jenseits des Atlantiks

Für viktorianische Briten war ein Bad in kaltem Wasser Ausdruck von Vitalität und Virilität, und ihr Weltreich nichts weniger als dieser morgendlichen Selbstkasteiung zu verdanken. Mehr noch: Für Edward Gibbon (1737-1794), den Historiker und Chronisten des Römischen Reiches, war klar, dass das Imperium auch deswegen untergegangen war, weil die Römer extensiv und heiß gebadet hatten; einst gestählte Legionäre hatten sich in verweichlichte Warmduscher verwandelt.

Die eigentlich sanitäre Revolution fand jedoch jenseits des Atlantiks statt. Bis zum Bürgerkrieg (1861-65) waren die Amerikaner etwa genauso schmutzig wie die Europäer. Aber in den Feldlazaretten zeigte sich, dass Wasser und Seife das Leben der Verwundeten retten konnten. Kurz zuvor hatte im fernen Wien der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis bewiesen, dass das häufige Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene bei den Ärzten zurückzuführen war. Niemand glaubte ihm.

Doch in den USA setzten sich solche Erkenntnisse langsam durch, die Massenimmigration aus Europa von Mitte des 19. Jahrhunderts an zwang dazu. Um 1900 waren knapp 40 Prozent von New Yorks dreieinhalb Millionen Einwohnern Einwanderer. Die Ankömmlinge quetschten sich in New York, Philadelphia oder Boston in primitive Quartiere ohne Toiletten, ohne fließendes Wasser. Immer wieder brachen Pocken und Typhus aus.

Das einzige Wasser, das katholische Iren benutzen, ist Weihwasser, spotteten die Alteingesessenen damals über die Neuzugänge. Aus den dreckigen, maladen Gestalten der Mietskasernen sollten gute, das heißt saubere Amerikaner werden. Täglich mussten sich 8000 Einwanderer, kaum waren sie auf Ellis Island gelandet, unter eine Dusche stellen - für viele war es das erste "Regenbad" ihres Lebens. Das Bad, befand ein Chicagoer Stadtpolitiker, ist die "einzige zivilisierende Macht, die etwas gegen die unzivilisierten Europäer, die sich in unseren Städten drängen, ausrichten kann".

Später kam den Saubermännern die Werbung zu Hilfe. "Es liegt Charakter in Wasser und Seife", heißt es in einer Zeitungsreklame von 1927. Der erste TV-Spot überhaupt pries Seife an, schreibt Virginia Smith in ihrer Hygienegeschichte "Clean". Die nachmittäglichen Seifenopern, die ihren Namen von den dauernden Werbeunterbrechungen für Waschmittel haben, prägten das Fernsehen und die Amerikaner über Jahrzehnte, derweil ihr Sauberkeitsfimmel zur Obsession geriet.

Die Leute sollen bitte schön nach Grapefruit, Vanille oder Rosen riechen, aber keinesfalls nach Mensch. 1940 hatten mehr als die Hälfte der Häuser in den USA Badezimmer, in Frankreich war es 1954 erst ein Zehntel. 2005 besaß ein Viertel der in den USA gebauten Häuser drei oder mehr Badezimmer. Ein Bad pro Familienmitglied ist inzwischen normal, solcher Luxus dient auch der Prüderie. Wer Amerikaner zu Besuch hat, weiß, dass die gerne zweimal täglich duschen, salatgurkengroße Zahnpastatuben im Gepäck mitschleppen und sich zwischendrein mit Spezialgel die Hände desinfizieren.

Denn mit dem Waschzwang kommt auch die Dauerangst vor germs, vor Bakterien. Es gibt in den USA Gurte zu kaufen, die einen davor bewahren, die Halteschlaufen in Bussen anfassen zu müssen, es gibt Manschetten, die man im Supermarkt auf den bazillenverseuchten Einkaufswagengriff legt. Die Kosmetikindustrie lebt gut von dieser Angst. Amerikanische TV-Werbung scheint zur einen Hälfte aus Wasch- und Putzmitteln zu bestehen und zur anderen aus Pillen und Sprays gegen Allergien. Inzwischen weiß man, dass hier ein Zusammenhang besteht, dass Kinder, die in Picobellohaushalten leben, viel öfter Allergien entwickeln als Kinder auf einem Bauernhof.

In der hypersauberen ersten Welt schlägt daher langsam das Pendel zurück. Im australischen Perth erhalten asthmatische Kinder "Dreckpillen" mit probiotischen Bakterien, die sie als Babys und Kleinkinder mutmaßlich nicht abbekamen. Deutsche Eltern, die sich für fortschrittlich halten, schicken ihren Nachwuchs morgens in naturbelassene Waldkindergärten und abends ungewaschen ins Bett. Vielleicht huldigen wir Zivilisierten schon bald wieder einer "gesunden" Dreckkruste auf der Haut.

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