Süddeutsche Zeitung

Gendiagnostik:Gesundheitssystem vor der genetischen Sturmflut

Die prädiktive Medizin kann bereits jetzt eine Vielzahl von Erkrankungen bestimmten genetischen Veränderungen zuordnen. Weil die Entschlüsselung des Erbguts immer einfacher wird, steht das Gesundheitssystem vor einem tiefgreifenden Wandel.

Moritz Pompl

Die Untersuchung des menschlichen Genoms hat sich in den vergangenen Jahren durch die technischen Möglichkeiten in einer Weise verbessert, die noch zur Jahrtausendwende unvorstellbar war. Bald wird es möglich sein, das gesamte Erbgut des Menschen zu entschlüsseln. Schon heute kann die prädiktive Medizin eine Vielzahl von Erkrankungen bestimmten genetischen Veränderungen zuordnen. Die Rahmenbedingungen für die Gendiagnostik sollte ein Gesetz schaffen, das Experten jedoch für unzureichend halten. Gemeinsam mit der Katholischen Akademie in Bayern informierte und diskutierte das Gesundheitsforum der Süddeutschen Zeitung vergangene Woche über "Genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention".

Ihr entschlüsseltes Erbgut wird bald Teil Ihrer elektronisch gespeicherten Patientenakte werden. Es wird von medizinischen Fachleute genutzt werden, um vielfältige Entscheidungen zu treffen - zur Diagnostik, der Verschreibung von Medikamenten und zur Prävention von Krankheiten." So stellt sich Francis Collin, Genetiker und Leiter des National Institute of Health der USA, die Zukunft der Medizin vor. Und auch deutsche Humangenetiker glauben, dass sich in unserem Gesundheitssystem ein schneller Wandel vollziehen könnte, "von der kurativen, heilenden Medizin hin zur prädiktiven, genetischen Krankheitsvorbeugung", wie es Professor Hermann Hepp formuliert. Werden wir zukünftig nur noch unseren Gen-Pass scannen lassen müssen, wenn wir krank sind?

Fest steht: Kaum ein anderes Fach der Medizin hat sich in den vergangenen Jahren so rasant entwickelt wie die Humangenetik. Innerhalb kurzer Zeit ist es Wissenschaftlern gelungen, beinahe das gesamte Erbgut des Menschen zu entschlüsseln - und immer mehr Erkrankungen kleinsten genetischen Abweichungen zuzuschreiben, sogenannten Mutationen. Eine solche Mutation liegt etwa bei der sogenannten Mukoviszidose vor, einer schweren Erkrankung der Atemwege und des Verdauungstraktes, die bereits in der Kindheit folgenschwer ist.

Auch bei Patienten mit Brust- oder Darmkrebs haben Forscher unterschiedliche Mutationen im Erbgut entdeckt. Finden sich diese Abweichungen bei nicht erkrankten Personen, so wird ihnen ein erhöhtes - teils 100-prozentiges - Risiko zugeschrieben, früher oder später ebenfalls zu erkranken. "Inzwischen sind rund 3500 solcher monogenen Krankheiten aufgeklärt - also Krankheiten, die auf die Mutation eines einzelnen Gens zurückzuführen sind", sagt Peter Propping von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. "Wir gehen davon aus, dass es insgesamt etwa 7000 sind, und schon bald werden alle aufgeklärt sein." Diese rasante Entwicklung ist auch möglich, weil sich die Kosten für die Erbgutanalyse innerhalb weniger Jahre auf einen Bruchteil minimiert haben.

Propping gibt indes zu bedenken, dass nur die wenigsten Abweichungen im Genom krank machen. "Etwa jeder tausendste der etwas mehr als sechs Milliarden Bausteine unseres Erbgutes unterscheidet sich von Mensch zu Mensch", so der Mediziner. "Das sind insgesamt rund sechs Millionen Varianten." Diese Abweichungen im Genom sind letztlich auch dafür verantwortlich, dass kein Mensch dem anderen gleicht. Neben den vielen harmlosen Mutationen und denen, die für eine monogene Krankheit verantwortlich sind, gibt es nach Expertenmeinung noch eine Vielzahl an Varianten, die - möglicherweise in unterschiedlichster Kombination - an sogenannten multifaktoriellen Erkrankungen beteiligt sind. Hierunter verstehen Mediziner bestimmte Leiden wie Bluthochdruck oder Diabetes, die nicht eindeutig auf eine einzelne Ursache zurückzuführen sind. Oft spielen Umwelteinflüsse und persönliche Verhaltensweisen die größte Rolle.

Genau mit diesen multifaktoriellen Erkrankungen aber verdienen Internetportale wie 23andme oder Navigenics ihr Geld. "Wenn Sie Ihr genetisches Risiko kennen, können Sie Ihre Gesundheit auf neue Art betrachten", heißt es auf der Website von Navigenics. Die Firma analysiert für rund 300 Dollar eine Speichelprobe, die der Konsument in einem Spezialbehälter einschickt. Wenige Wochen später erhält der Absender sein entschlüsseltes Genom mitsamt allen Krankheitsrisiken. "Herzinfarkt: 42 Prozent, Durchschnitt: 25 Prozent", heißt es da etwa. Das persönliche Risiko für einen Herzinfarkt liegt also angeblich höher als bei der Normalbevölkerung. Maßgeschneiderte persönliche Ratschläge werden gleich mitgeliefert: "Reduzieren Sie Stress und konsumieren Sie mehr Omega-3-Fettsäuren."

Selbst für Erkrankungen, bei denen Mediziner genetische Einflüsse bislang bestenfalls vermuten, liefert Navigenics schon heute ein persönliches Risikoprofil, etwa für Morbus Crohn, eine chronische Darmentzündung. Im Netz, so scheint es, ist die Humangenetik längst auf kommerzielle Abwege geraten. "Wir fragen uns, wie wir verhindern können, dass Menschen auf Grund vager genetischer Risikoaussagen zum Kauf von Vitaminen, Mineralstoffen und anderen Nahrungsergänzungsmitteln oder zum Gebrauch angeblich vorbeugender Arzneimittel verleitet werden", sagt Thomas Cremer vom Institut für Anthropologie und Humangenetik der Universität München. "Wir fordern dringend das Verbot dieser Angebote." Ob die Humangenetiker ein solches Verbot gegen international operierende Firmen werden durchsetzen können, bleibt fraglich: 23andme etwa gehört zum Google-Imperium, das sich von Klagen in der Regel wenig beeindrucken lässt.

Auch unter ethischen Gesichtspunkten scheinen die Internetangebote zur Gendiagnostik mehr als fragwürdig. Denn sie entbehren oft nicht nur solider wissenschaftlicher Grundlagen, sondern bringen die Kunden möglicherweise in eine schwierige Lage. So konnten Studien zeigen, dass Personen, die von einem leicht erhöhten Darmkrebsrisiko erfuhren, häufiger über Bauchschmerzen klagten - obwohl sie völlig gesund waren. Von einem solchen Risiko zu wissen, hilft keinem, wenn keine ärztliche Beratung mit weiterer medizinischer Betreuung im Bedarfsfall erfolgt. Und letztlich kann auch ein Missbrauch nicht ausgeschlossen werden: Wer überprüft, ob die eingesandte Speichelprobe tatsächlich zum Antragsteller gehört?

Bei aller Skepsis gegenüber halbseidenen Angeboten besteht indes die Hoffnung, dass sich die professionelle Medizin unter der rapiden Entwicklung der Humangenetik weiter verbessert - und damit letztlich den Patienten zugute kommt. Schon heute profitieren Patienten mit erblichem Darm- oder Brustkrebs und ihre Angehörigen entscheidend von einer humangenetischen Abklärung, sowohl was vorbeugende Maßnahmen als auch frühzeitige Therapien betrifft. Längst ist auch die pränatale Diagnostik, also die Untersuchung des Embryos im Mutterleib auf bestimmte Erbkrankheiten wie Trisomie 21, nicht mehr wegzudenken.

Und bald schon könnten nicht nur die ungeborenen Kinder, sondern auch die Paare selbst systematisch auf ihre Erbanlagen hin untersucht und das Risiko ihrer zukünftigen Kinder für bestimmte Erbkrankheiten abgeschätzt werden. "Diese sogenannte Heterozygotentestung ist laut Gendiagnostik-Gesetz zugelassen, aber gesellschaftlich noch wenig diskutiert", sagt Professor André Reis. Ob die Tests aber tatsächlich sinnvoll sind, ohne dass ein Krankheitsverdacht besteht, wird selbst in Fachkreisen kontrovers betrachtet.

Denn auch bei der professionellen Anwendung humangenetischer Erkenntnisse bleiben zahlreiche Gefahren. Die Entschlüsselung des gesamten Erbgutes wird auf lange Sicht zur Standardmethode werden, weil das künftig einfacher und billiger sein wird, als nur einen gezielten Genschnipsel herauszufiltern. Dadurch entsteht ein Überschuss an Information über jeden untersuchten Patienten.

Abgesehen von möglichen Datenschutzproblemen stellt sich die Frage: Wie sollen Ärzte damit umgehen, wenn ihre Patienten plötzlich mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer höchst seltenen Erbkrankheit leiden werden als der Durchschnitt - und es im Zweifel gar keine Behandlungsmöglichkeit gibt? Mediziner könnten indes ein solch starkes Vertrauen in die Gendiagnostik gewinnen, "dass andere, oftmals wichtigere Krankheitsauslöser wie etwa das soziale Umfeld oder die Psyche vernachlässigt würden", warnt Georg Marckmann.

Der Medizinethiker gibt außerdem zu bedenken, dass Menschen mit einem bestimmten genetischen Profil durch die Entwicklung diskriminiert werden könnten. Ein Problem, das zuletzt auch in der Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik hitzig debattiert wurde. So könnten sich etwa künftig alle Mütter gegen ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden, wenn die Tests entsprechend einfacher werden. Für die Gesellschaft wäre das ein großer Verlust. Humangenetiker Propping unterstreicht: "Zentral ist der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten."

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Quelle:
SZ vom 27.06.2012/mcs
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