Süddeutsche Zeitung

Geburt:Wie sinnvoll ist ein Kaiserschnitt?

Ein Drittel aller Frauen in Deutschland bringt ihr Kind per Kaiserschnitt zur Welt. Dabei birgt der Eingriff auch Nachteile.

Von Werner Bartens

Die Frau kam aufgeregt direkt in die Notaufnahme. "Ich habe einen Schwangerschaftstest gemacht, der ist positiv und da wollte ich wissen, ob alles in Ordnung ist", platzte es aus der jungen Dame heraus. "Ich will sicher sein, dass mein Kind gesund ist." Solche Szenen sind in Kliniken keine Seltenheit - Schwangere begeben sich gleich nach der Empfängnis in medizinische Obhut. "Immer mehr Frauen wollen alles unter Kontrolle haben und optimal vorbereitet sein", sagt Katharina Lüdemann, Chefärztin der Frauenklinik am St. Josef-Stift in Delmenhorst. "Da muss alles passen, und natürliche Vorgänge wie Schwangerschaft und Geburt werden als Projekt gesehen, von Anfang bis Ende."

In der Folge ist die Betreuung werdender Mütter immer intensiver geworden. Frauenärzte bieten mancherorts eine Flat Rate während der Schwangerschaft an. Zehn Ultraschalluntersuchungen zum Pauschalpreis statt der drei von den Krankenkassen bezahlten - und medizinisch empfohlenen. "So sind Sie in Sicherheit", wirbt eine Praxis um Schwangere. "Der Begriffswechsel von der Geburtshilfe zur Geburtsmedizin suggeriert schon, dass die Schwangerschaft ständig medizinisch überwacht werden muss", sagt Lüdemann. Dabei ist es ein Irrtum, dass mehr Vorsorge gesünder macht.

Die Überversorgung bekommt nicht allen Frauen gut. Die Rate der Entbindungen per Kaiserschnitt hat sich in 20 Jahren mehr als verdoppelt. Von 15 Prozent im Jahre 1990 stieg der Anteil auf 32,1 Prozent im Jahr 2011. Seitdem stagniert die Kaiserschnittrate zwar, pendelt aber weiterhin auf hohem Niveau. Was ist passiert? Wie konnte der Kaiserschnitt von einem Notfall-Eingriff, der das Leben von Mutter und Kind retten soll, zur Routine-Operation werden? Was musste geschehen, damit aus dem wunderbaren Moment der Geburt "der gefährlichste Tag im Leben" wurde, wie Frauenärzte auf Medizinerkongressen schon mal warnen?

Normale Schwangerschaften gibt es aus Sicht vieler Ärzte kaum noch. Mehr als zwei Drittel gelten als "Risikoschwangerschaften". Die Mutter ist zu alt oder zu jung oder zu dick oder zu krank. Sie hat zu viel oder zu wenig Fruchtwasser. Das Baby ist zu groß oder zu klein. Es liegt falsch, quer oder hat eine andere Haltung, die nicht als Lehrbuchposition gilt. Es gibt kaum noch Kinder und Mütter, die den hohen Standards entsprechen. Die Mehrheit gilt als pathologisch oder gefährdet.

Frauen wollen sich nichts vorwerfen lassen. Es geht ja um zwei Leben, von Mutter und Kind

Und dann passiert Eigenartiges: "Fast alle Frauen wollen auf natürliche Weise entbinden - aber sobald das Wort Risiko fällt, entscheiden sie sich für den Kaiserschnitt. Dieser Meinungswandel geht von Ärzten aus, die Frauen machen das ja nicht aus Jux und Dollerei", sagt die Bielefelder Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip. Bloß nichts falsch machen, bloß keine unnötigen Gefahren in Kauf nehmen. Ein redseliger, unerfahrener Arzt, der beim Ultraschall das "kleine Köpfchen" oder "wenig Fruchtwasser" erwähnt - schon ist das Sicherheitsbedürfnis geweckt. Was früher als unabänderliches Schicksal angenommen wurde, verkehrt sich heute schnell zum individualisierten Schuldgefühl. Und dem gilt es vorzubeugen.

"Frauen wollen sich nichts vorwerfen lassen, und außerdem geht es ja um zwei Leben, das von Mutter und Kind", sagt Petra Otto, die eine Broschüre zum Thema 'Handlungsbedarf Kaiserschnitt' erstellt hat.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kaiserschnitt, Saugglocke, Zange, Rückenmarkanästhesie und viele andere Hilfsmittel sind segensreiche Entwicklungen für die Geburtshilfe, haben viele Leben gerettet und Leiden gelindert. Inzwischen liegt die Kindersterblichkeit rund um die Geburt in Deutschland bei 4 Todesfällen pro 1000, die Müttersterblichkeit ist weitaus geringer. 1870 starben hingegen noch 250 von 1000 Kindern in Deutschland während oder kurz nach der Geburt. Eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. "Man kann sich hier mittlerweile kaum vorstellen, was es heißt, ohne Hilfe der Medizin gebären zu müssen", sagt Chefärztin Lüdemann, die mehrere Jahre in Westafrika gearbeitet hat. "Die Natur kann ganz schön grausam sein."

Deshalb geben die Weltgesundheitsorganisation und ärztliche Fachverbände auch an, dass bei zehn bis 15 Prozent aller Entbindungen ein Kaiserschnitt "medizinisch indiziert" sein könnte. In fünf bis zehn Prozent der Fälle geht es um Leben und Tod, etwa weil die Plazenta vorgelagert ist oder eine Querlage die normale Geburt unmöglich macht. "Aber auch ein Neun-Pfund-Kind müssen Frauen nicht vaginal bekommen", sagt Lüdemann. "Das geht zwar, kann aber den Beckenboden dauerhaft stark schwächen."

Aufräumen muss man zudem mit dem Mythos vom attraktiven Wunschkaiserschnitt. Mit einem schnellen Schnitt, elegant, sanft und sicher komme das Kind auf die Welt, so die Slogans in manchen Frauenzeitschriften und Privatkliniken. Zudem werde der "Liebeskanal" geschont und Schmerzen blieben aus, wenn Frauen auf die vaginale Entbindung verzichten. Auch wenn sich Britney Spears, Heidi Klum, Madonna und andere Prominente dafür entschieden haben, macht der Anteil der Frauen, die in Deutschland aus diesen Motiven entbinden, nicht einmal drei Prozent aus. "Es stimmt nicht, dass Frauen es sich mit dem Kaiserschnitt leicht machen wollen oder den Termin nach Plänen ihres Partners aussuchen", sagt Kolip.

Schließlich ist der Kaiserschnitt auch mit Nachteilen verbunden. Auf diese Weise geborene Kinder leiden um bis zu 50 Prozent häufiger an Infekten und Allergien. Durch den mechanischen Druck während der normalen Geburt wird das Fruchtwasser aus den Lungen der Babys gepresst, was gut für ihre Atemwege ist. Bei der Geburt auf vaginalem Wege nehmen die Kinder zudem das dortige Mikrobiom auf. Das Mischungsverhältnis hilfreicher Keime wirkt sich günstig auf die Darmflora der Kinder aus, was sie weniger krankheitsanfällig macht.

"Diese Kinder haben ja keine Lobby und können nicht mit entscheiden, wann sie kommen."

Auch für den Umgang mit Belastungen spielt die Art der Geburt eine Rolle. "Das Kind wird beim Kaiserschnitt ohne Vorwarnung in die Welt geworfen, da fehlt die Ausschüttung von Stresshormonen, um sich dem Umfeld anzupassen", sagt Lüdemann. Viele Kinder sind schlapp nach einem Kaiserschnitt, haben Probleme mit Atmung und Blutzucker. Zudem müssen sie dreimal häufiger auf die Intensivstation als vaginal entbundene Kinder. "Ich hatte gerade so ein Kind, das war noch gar nicht richtig da und wirkte geschockt und unzufrieden", sagt Veronika Wolff, die in Starnberg als Hebamme arbeitet. "Nach Kaiserschnitt schreien Kinder mehr und lassen sich nicht so leicht beruhigen. Es kann schlicht zu früh für sie sein. Die Kinder haben ja keine Lobby und können nicht mitentscheiden, wann sie kommen."

Zudem kann eine Geburt per Kaiserschnitt die Mutter-Kind-Bindung erschweren. Manchmal vergehen drei Stunden, bis das Kind der Mutter auf den Bauch gelegt werden kann. Kinder nach Schnittentbindung werden seltener gestillt, die Mütter sind nach dem Eingriff geschwächt, Milch schießt später ein. Statistiken zeigen, dass Kaiserschnitt-Kinder seltener Geschwister bekommen. Die Operation kann als unschönes Erlebnis im Gedächtnis bleiben, außerdem kommt es in etwa einem Drittel der Fälle zu Verwachsungen im Unterbauch, die eine spätere Sterilität manchmal begünstigen. "Frauen werden zwar gut über den Kaiserschnitt selbst aufgeklärt, aber die Wochenbettbetreuung danach ist katastrophal", sagt Kolip. "Oft werden die möglichen Folgen nicht erklärt: Was für eine schwere Operation das sein kann und dass sie ihr Kind nicht gleich betreuen können."

Aus all dem folgt: Der beste Platz für die Hände der Geburtshelfer sind zumeist die Hosentaschen. Abwarten, begleiten, das Kind bahnt sich schon seinen Weg. Das ist übrigens seit Hunderttausend Jahren so und milliardenfach erprobt. Schwer zu sagen, wann der Risikoblick Schwangerschaft und Geburt vereinnahmt hat. Liegt es auch daran, dass Frauen bei der ersten Geburt immer älter sind, es oft bei einem Kind bleibt und dieser einmalige Vorgang dann, bitte schön, optimal ablaufen muss?

Geburtshelfer haben wenig Erfahrung mit komplizierten vaginalen Entbindungen

"Die Geburtshilfe wurde in den letzten Jahrzehnten scheinbar immer familienfreundlicher und kuscheliger; Gebärwannen, sanfte Farben, Aromatherapie und Kreißsäle, die aussehen wie Wellness-Oasen ", sagt Frauenärztin Lüdemann. "Trotzdem gibt es heute kaum noch Geburten ohne medizinische Intervention: Geburtseinleitung, Wehentropf, Kaiserschnitte - viele dieser Maßnahmen greifen in den Verlauf der natürlichen Geburt ein, verbessern die Gesundheit von Mutter oder Kind aber nicht." Obwohl sich die Kaiserschnitt-Rate seit 1990 verdoppelt hat, ist die Kindersterblichkeit seither nicht zurückgegangen. Offenbar gibt es einen kleinen Anteil fataler Verläufe, den auch die Medizin nicht verhindern kann.

Eine Umfrage des Arbeitskreises Frauengesundheit unter Hebammen und Frauenärzten ergab 2015, was zu den steigenden Kaiserschnittraten beigetragen hat: Aus Angst vor Haftpflichtprozessen würden Ärzte wie Hebammen vermehrt zur "Defensivmedizin" neigen und im Zweifel den Kaiserschnitt vorziehen. "Mit Zwillingen oder Beckenendlage finden Frauen oft keinen Arzt, der sagt, das machen wir auf vaginalem Wege. Stattdessen schlagen Ärzte den Kaiserschnitt vor, weil sonst das Risiko zu hoch wäre", hat Kolip beobachtet. Immer weniger Geburtshelfer haben folglich Erfahrung mit komplizierten Geburten. "Das ist eine Negativspirale: Wenn ich es als Geburtshelfer nicht gelernt habe, ist eine kompliziertere vaginale Geburt natürlich ein höheres Risiko. Das ist ja auch Übungssache. Die handwerklichen Fähigkeiten sind oft nicht mehr vorhanden."

Die Ökonomisierung der Medizin verstärkt den Druck auf planbares Handeln und damit die Neigung zum Kaiserschnitt zusätzlich. Vorgeburtliche Tests und zusätzliche Ultraschall-Untersuchungen werden als Individuelle Gesundheitsleistung extra honoriert. In der Klinik sieht Kolip weniger finanzielle Argumente im Vordergrund, weil ein Kaiserschnitt zwar besser vergütet wird als die natürliche Geburt, aber eben auch mit mehr Ausgaben einhergeht. Vielmehr gehe es um Zeitökonomie. "Nach 15 Stunden Geburtsverlauf kann ich als Geburtshelfer sagen, dass wir noch abwarten, und die Gebärende geht in die Wanne - oder ich habe die Faxen dicke und sage: Wir schneiden jetzt."

Im Jahr 2012 ergab ein Vergleich der Bertelsmann-Stiftung, dass Kaiserschnittraten in Deutschland zwischen 17 Prozent und 52 Prozent schwanken. Medizinisch ist es nicht zu erklären, warum in Landau in der Pfalz und im Eifelkreis Bitburg-Prüm jedes zweite Kind per Sectio auf die Welt kommt, während die Kaiserschnittrate in Dresden, Bautzen und Chemnitz unter 20 Prozent liegt. Vermutlich spielen finanzielle und zeitliche Anreize, alte Gewohnheiten und die viel beschworene "Klinik-Kultur" eine Rolle. Berlin, Hamburg, München liegen bei 25 bis 28 Prozent und damit unter dem Bundesdurchschnitt.

Es ist ein Dilemma. Die meisten Frauen wollen eine normale Geburt, die meisten Hebammen und Ärzte auch. Mediziner sind dazu verpflichtet, über Risiken aufzuklären, aber mit jedem Hinweis auf mögliche Gefahren kippt oft die Bereitschaft der Schwangeren, sich auf eine normale Entbindung einzulassen. Da ist viel Angst im Spiel, aber auch Angstmache. Zudem haben Frauen den Eindruck, den Geburtsprozess mit einem Kaiserschnitt besser kontrollieren zu können. Paradox, es gibt ja kaum einen größeren Kontrollverlust, als sich narkotisieren zu lassen. "Die Verunsicherung der Frauen ist groß", sagt Hebamme Veronika Wolff. "Dabei wäre es so wichtig, dass alle Beteiligten mehr Vertrauen in den natürlichen Ablauf der Geburt haben."

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SZ vom 20.08.2016
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