Margarete wog kaum mehr als zwei Stück Butter, als sie zur Welt kam. Wie "ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist", erschien sie ihrer Mutter. "Keiner kann uns jetzt sagen, was passieren wird", notierte Johanna Graeff in ihr Tagebuch: "Jede Möglichkeit ist genauso wahrscheinlich wie die andere." Die Möglichkeiten sind Tod, lebenslange Behinderung, leichte Beeinträchtigungen oder aber ein beschwerdefreies Leben.
Margarete war mit 23 Wochen und sechs Tagen im Münchner Klinikum Großhadern zur Welt gekommen. Sie gehört zu jenen Babys, von denen man noch vor wenigen Jahrzehnten gesagt hätte, dass ein Überleben biologisch unmöglich sei. Noch in den 1970er-Jahren befanden Mediziner, dass Kinder, die weniger als 24 Wochen im Bauch der Mutter reifen konnten, dem sicheren Tod geweiht seien.
Heute liegen solche Babys auf den Intensivstationen der Kliniken. Ihre Haut ist papierdünn und wirft Falten an dürren Ärmchen, der Kopf nicht größer als eine Apfelsine. Darüber stülpen sich Atemmasken, die Luft in die Lungen leiten, die durch Medikamente zur schnelleren Reifung angeregt wurden. Verbesserte Technik und Medikamente, die die Organentwicklung beschleunigen, haben es möglich gemacht, die Grenze der Lebensfähigkeit immer weiter zu verschieben. Doch wann immer Mediziner einen Schritt vorrücken, erwartet sie nicht nur der Erfolg der medizinischen Pioniere, sondern eine Region der Ungewissheit. "Grauzone" nennen Neonatologen das.
Sie gilt heute für Kinder, die in der 23. oder 24. Woche geboren werden. Für ihre Behandlung gibt es in Deutschland keine eindeutigen medizinischen Standards. Die Eltern entscheiden, ob sie ihrem winzigen Kind eine Chance auf Leben einräumen oder ob sie es sterben lassen. Wie viele dieser Kinder es gibt, weiß man nicht genau. "Die Statistik ist löchrig, Babys, die kurz nach der sehr frühen Geburt versterben, werden nicht überall erfasst", sagt Andreas Flemmer, Leiter der Neugeborenen-Intensivstation am Klinikum Großhadern. Damit fehlt die Basis für die Antwort, die die Eltern so dringend brauchen: Welche Überlebenschancen hat unser Frühchen?
Die Leitlinie, die Ärzten einen Weg vorgibt, führt Überlebensraten von mehr als 75 Prozent für Kinder auf, die die 24. Schwangerschaftswoche vollendet haben. Für die noch jüngeren Babys operiert sie mit Erfahrungen verschiedener Länder. Zwischen zehn und 50 Prozent liegen die durchschnittlichen Überlebensraten, die noch dazu oft nur auf kleinen Fallzahlen und unterschiedlichen Standards beruhen. Zu der Unsicherheit der Statistik kommt die Ungewissheit ihrer Bewertung. Überlebenschancen unter 50 Prozent- ist das zu wenig? "In der Onkologie gelten viel schlechtere Raten als Erfolg", kommentiert Flemmer.
Rekordgeburten:Außergewöhnlicher Start ins Leben
Riesen-Babys, winzige Frühchen, greise Mütter und Mehrlinge: Das Leben bricht sich manchmal auf verblüffende Weise Bahn. Manche der Rekordgeburten sind medizinische Erfolgsgeschichten, einige enden problematisch.
In Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz lässt man solche Argumente nicht gelten. Ein Kind, das vor dem Ende der 24. Schwangerschaftswoche geboren wird, gilt dort meist von der ersten Sekunde seines Lebens an als Palliativpatient. Das sind willkürliche Grenzen, die herzlos klingen mögen. Doch die Maximaltherapie für derart Frühgeborene birgt nicht nur die Chance auf Leben, sondern manchmal auch die Frage, ob nicht lediglich ein aussichtsloses Leiden verlängert wird.
"Wie weit gehen wir mit der Intensivtherapie?", fragte sich auch Johanna Graeff. "Wann ist der Punkt, an dem wir sagen, es geht nicht mehr, lasst sie gehen? Können wir das überhaupt noch, wenn sie schon ein paar Tage oder gar Wochen alt ist?" Johanna Graeff ist Pfarrerin, religiöse Motive mögen in dieser Situation eine große Rolle gespielt haben. Aber sie ist auch eine Mutter, die lange auf die Schwangerschaft gewartet hat und einfach nur hoffen will: "Wenn ich mein winziges Baby im Inkubator sehe, schreit alles in mir nur: Tut alles, was ihr könnt, um mein Kind zu retten. Sie ist doch eigentlich ein ganz gesundes Kind, nur viel zu früh herausgepurzelt."
Die Familie entscheidet, dass das kleine Mädchen um sein Leben kämpfen darf. "Die meisten Eltern wollen, dass wir alles für ihr Kind tun", sagt Flemmer. Sie stehen die Wochen vor den Inkubatoren bereitwillig durch, ertragen das Auf und Ab aus Fortschritten und Rückschlägen. Bei Margarete waren es Magenblutungen und ein kollabierender Lungenflügel, kurzfristig sah es so aus, als müsste das 600 Gramm leichte Baby am Herzen operiert werden, doch dann ließ sich das Herzproblem durch Medikamente beheben. Wenig später erlitt das kleine Mädchen eine Hirnblutung. Doch es meisterte eine Situation nach der anderen. Drei Monate nach ihrer Geburt durfte Margarete nach Hause. Doch es blieb die Ungewissheit, wie sie sich entwickeln würde.
Über die Kinder aus der Grauzone gibt es so gut wie keine Langzeiterkenntnisse - allenfalls Annäherungen, wie eine Untersuchung aus Niedersachsen, wo Mediziner seit dem Jahr 2004 das Schicksal von Extremfrühchen verfolgen. Ein Viertel dieser Kinder hatte mit fünf Jahren keinerlei Einschränkungen. 40 Prozent hatten einen Intelligenzquotienten unter 85. Fast 20 Prozent litten an einer Cerebralparese, einer Hirnschädigung, die sich meist durch Spastiken äußert. Allerdings wurden in dieser Untersuchung Kinder beobachtet, die vor dem Ende der 28. Schwangerschaftswoche geboren wurden. Extreme Frühchen wie Margarete, die nicht einmal 24 Wochen im Bauch reifen konnten, machten nur acht Prozent der untersuchten Kinder aus. Ihr Schicksal ist nicht ausgewiesen.
Doch wo genaue Kenntnisse fehlen, entsteht "Raum für Interpretationen, die von Hoffnungen, Befürchtungen und Zweifeln getragen sein können", warnt der Mainzer Medizinethiker Norbert Paul. Selbst bei medizinischen Angestellten scheinen subjektive Faktoren eine Rolle zu spielen. Eine irische Studie etwa zeigt, dass ältere und erfahrenere Ärzte und Pflegekräfte zurückhaltender gegenüber einer Lebensverlängerung waren als jüngere. "Gerne wird auch der Zustand des Frühgeborenen direkt nach der Geburt als entscheidendes Moment aufgeführt. Das Kind zeige schon, ob es leben wolle", schreibt Paul in einem Beitrag für die Zeitschrift Kinderärztliche Praxis. Dabei gehen viele Fachgesellschaften davon aus, dass der Zustand unmittelbar nach der Geburt kaum Aussagekraft für die weitere Entwicklung des Kindes hat.
Paul leitet ein Forschungsprojekt, in dem Familien mit Frühgeborenen über viele Stunden befragt werden. Erste Ergebnisse lassen erahnen, dass die Unsicherheit der Grauzone bis tief in die Gesellschaft hineinreicht. Der Ethiker begegnete Eltern wie jenen, die mit ihrem frühgeborenen Baby nur auf abgelegenen Wegen spazieren gingen. Sie fürchteten Blicke auf das winzige Kind, Bemerkungen oder Fragen. Was hätten sie auch antworten können? Sie hatten keine Rolle, kein gesellschaftliches Bild - Paul nennt es "Masternarrativ" - für ihre Situation.
"Es gibt kein verankertes Wissen und keinen gesellschaftlichen Diskurs über die Frühgeburtlichkeit und den Umgang mit ihr - obwohl nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa zehn Prozent aller Kinder zu früh geboren werden", sagt der Ethiker. Für die Eltern bedeutet dies auch, dass sie überwiegend auf sich gestellt sind und keine Bewältigungsstrategie für diese Situation kennen. Was ihnen hilft, ist sehr unterschiedlich: ein guter Hausarzt, die Kirchengemeinde, psychosoziale Unterstützung.
Eine Frühgeburt ist letztlich eine sehr individuelle Erfahrung. Deshalb lohnt auch ein Blick auf das subjektive Erleben der Familien. Würzburger Forscher haben junge Erwachsene befragt, die vor der 32. Woche geboren wurden. Trotz einiger Beeinträchtigungen entsprach ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden dem einer Gruppe Reifgeborener. Die ehemaligen Frühchen fühlten sich in ihrem Alltag nicht stärker eingeschränkt als die Vergleichsgruppe. Eine kanadische Studie zeigte, dass sich Mütter mit Frühchen nicht stärker belastet betrachteten als Frauen, die komplikationslose Geburten erlebt hatten. Das galt selbst für jene Familien, deren Kinder neurologische Schäden davongetragen hatten.
Johanna Graeff sagt heute: "Bereut habe ich nichts." Margarete wird im Januar ihren vierten Geburtstag feiern. Sie ist stark weitsichtig und langsamer als die meisten Gleichaltrigen, ihre Bewegungen sind nicht immer flüssig, ihr Verdauungssystem sensibel. Dennoch: Sie ist fröhlich und aufgeschlossen. "Ich gehe heute davon aus, dass sie ihr Leben gut und selbständig wird meistern können", sagt ihre Mutter.