Süddeutsche Zeitung

Früherkennung:Nutzlose Tests für Todkranke

Bei vielen Tumorpatienten im fortgeschrittenen Stadium finden Untersuchungen zur Früherkennung von Krebs statt - sogar wenn die Kranken im Schnitt nur noch zwei Jahre zu leben haben.

Werner Bartens

Wenn das Haus brennt, kann man getrost darauf verzichten, noch die Fenster zu putzen. Diese Einsicht ist eigentlich selbstverständlich, in der Medizin hat sie sich aber offenbar längst nicht überall durchgesetzt.

Anders sind die Studienergebnisse amerikanische Krebsexperten kaum zu erklären. Im Fachmagazin Journal of the American Medical Association vom heutigen Mittwoch berichten die Mediziner, dass bei einem erheblichen Anteil von Tumorpatienten im fortgeschrittenen Stadium Untersuchungen zur Früherkennung von Krebs stattfinden - auch wenn die Kranken im Durchschnitt nur noch zwei Jahre zu leben haben (Bd.304, S.1584, 2010).

"Patienten werden unnötigen Risiken durch anschließende Untersuchungen, Biopsien und den psychischen Stress ausgesetzt", sagt Camelia Sima vom Memorial-Sloan-Kettering-Krebs-Zentrum in New York. Sie hatte mit ihrem Team 87.000 Patienten, die älter als 65 Jahre waren, in ihre Studie eingeschlossen.

Obwohl die Kranken an ausgeprägtem Lungenkrebs, Dickdarmkrebs, Brustkrebs oder an Tumoren der Bauchspeicheldrüse oder von Magen oder Speiseröhre litten, nahmen sie noch an diversen Früherkennungsprogrammen teil. Definitionsgemäß werden beim Screening beschwerdefreie Gesunde untersucht.

Neun Prozent der älteren Damen erhielten dennoch eine Screening-Mammographie der Brust. Ein Pap-Abstrich am Gebärmutterhals wurde bei 5,8 Prozent genommen. Bei 15 Prozent der Männer bestimmten Ärzte im Blut das PSA zum Screening von Prostatakrebs. 1,7 Prozent der Patienten unterzogen sich trotz ihres fortgeschrittenen Krebsleidens sogar einer Darmspiegelung zur Früherkennung.

Hatten die Patienten zuvor regelmäßig an Screening-Programmen teilgenommen, waren die Untersuchungen noch häufiger. In diesem Fall bekamen 16,2 Prozent der Frauen Mammographien und 14,7 Prozent einen Abstrich. 23,3 Prozent der Männer unterzogen sich einem PSA-Test und 6,1 Prozent aller Patienten einer Darmspiegelung.

Die Autoren um Camelia Sima sind erkennbar verärgert über die überflüssigen Untersuchungen und schaffen es kaum, dies in der nüchternen Fachsprache zu verbergen. Die Krebsexperten sprechen von "tief eingegrabenen Gewohnheiten" oder einer Screening-Routine "auf Autopilot". Eine andere Erklärung wäre auch nicht gerade schmeichelhaft für die Kommunikation der Ärzte: Demnach versäumen es viele Mediziner, ihren Patienten die schlechte Prognose ihres Krebsleidens mitzuteilen und führen deshalb die unnötigen Früherkennungstests weiter fort, obwohl sie den Patienten keinerlei Nutzen mehr bringen können.

Übertroffen wurde dieses absurde Verhalten von einer anderen ärztlichen Routine, die 2004 bekannt wurde. Von 22 Millionen amerikanischen Frauen, denen operativ längst die Gebärmutter entfernt worden war, erhielten 15 Millionen trotzdem weiterhin einen Pap-Abstrich am Gebärmutterhals. "Die Frauen bekommen Krebsvorsorge für ein Organ, das sie nicht mehr haben", sagte die Leiterin der Studie, Brenda Sirovich, seinerzeit. Schwer zu sagen, worüber man eher den Kopf schüttelt - Früherkennungstests bei Todkranken oder Vorsorge am fehlenden Organ.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2010/mcs
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