Fragwürdige Behandlungen:"Wahnsinn mit Methode"

Zement in Wirbelkörpern, Biomarker, Neurostimulatoren - viele neue Therapien werden vermarktet, ohne dass ein Nutzen für die Patienten erwiesen ist. Die Dreistigkeit, mit der angebliche Vorteile angegeben werden, ist Experten zufolge erstaunlich.

Werner Bartens

Für die einen sind sie Spielverderber. Den anderen gelten sie als aufrechte Streiter für eine sinnvolle Medizin, die sich am Nutzen für Patienten und nicht am Profit der Pharmafirmen, Medizintechnikunternehmer und Ärzte orientieren. Die Waffen im Kampf gegen eine dem ökonomischen Diktat unterworfene Medizin, gegen Marketingabteilungen der Firmen und Krankenhäuser sind jedoch vergleichsweise stumpf. Lediglich ihre kritische Urteilskraft und eine sorgfältige Analyse der bisherigen klinischen Studien stehen jenen zur Verfügung, die eine bessere Medizin wollen.

"Manchmal hat man den Eindruck, das ist Wahnsinn mit Methode", sagt Jürgen Windeler. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt er für eine wissenschaftlich fundierte Medizin ein. In den 1990ern war er maßgeblich beteiligt, die immer wieder am politischen und ökonomischen Widerstand gescheiterte Positivliste zu erstellen, in der statt der mittlerweile 60.000 Medikamente auf dem Markt nur 1500 sichere, nützliche und zuverlässige Präparate aufgeführt sind, die Ärzte in der Klinik brauchen - für eine Internistenpraxis würden sogar 500 Arzneien ausreichen, für den Hausarzt 150.

Seit September 2010 bekommt Windeler den Wahnsinn in der Medizin aus nächster Nähe mit. Er leitet seither das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, das jährlich bis zu 50 diagnostische und therapeutische Verfahren bewertet. Windeler hat Dutzende Beispiele untersucht, in denen der Nutzen einer Behandlung steif und fest behauptet, aber nie belegt wurde. "Die Dreistigkeit, mit der angebliche Vorteile angegeben werden, ist manchmal erstaunlich", sagt der Arzt. "Natürlich ärgere ich mich über Auswüchse des Systems - und dass es immer wieder ausgenutzt wird."

Im Jahr 2009 beispielsweise berichtete der Bundesverband Medizintechnologie, ein Wirtschaftsverband, der 200 Unternehmen vertritt, von einer neuartigen Behandlung schmerzhafter Wirbelkörperbrüche. Für Millionen Deutsche mit Osteoporose sei mit einem Zement, mit dem die Wirbelkörper aufgefüllt werden, endlich "ein schonendes Verfahren zur dauerhaften Schmerzbeseitigung" gefunden worden. 2011 erschien im Deutschen Ärzteblatt eine Studie von Radiologen aus Recklinghausen, die 1188 Patienten behandelt hatten und davon schwärmten, dass die Zementspritze "die Schmerzen bei der Wirbelkörperfraktur unmittelbar gelindert", zudem "die Beweglichkeit verbessert" und "den Schmerzmittelbedarf verringert" habe.

Schwer zu sagen, ob es Mut oder Voreingenommenheit bedarf, um so etwas zu behaupten. In einer Studie im weltweit angesehensten Fachblatt für Ärzte, dem New England Journal of Medicine, hatten australische Ärzte um Rachelle Buchbinder schon 2009 festgestellt, dass es keinen Nutzen der Wirbelzementierung gebe. In ihrer Studie hatten die Australier einem Teil der Patienten Zement in lädierte Wirbel injiziert, die andere Hälfte bekam ebenfalls Spritze und Verband, allerdings ohne dass etwas injiziert wurde. Unmittelbar danach, wie auch drei Monate und ein halbes Jahr später war der Nutzen gegenüber der Scheinbehandlung gleich Null. Beide Gruppen klagten über ähnlich starke Schmerzen.

Die Ärzte aus dem Ruhrgebiet konnten diese Befunde nicht nachvollziehen. Wie auch, sie hatten ja keine Vergleichsgruppe untersucht, was bei einem guten Fachartikel über eine neue Therapie selbstverständlich wäre. Auf der letzten Seite ihres Beitrags gehen sie auf Buchbinders Studie ein und beklagen, dass dadurch "die Anwendung einer Methode, die sich in den Jahren zuvor zunehmend etabliert hat, stark beeinflusst wurde und dies zu möglichen Missinterpretationen und Unsicherheiten bei Zuweisern und Behandlern geführt" hat. Auf Deutsch: Wir lassen uns doch eine Behandlung nicht mies machen, nur weil deren Nutzen nicht erwiesen ist.

"Wir müssen bessere Untersuchungen einfordern"

"Wir müssen bessere Untersuchungen einfordern", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Gerade für die derzeit so massiv beworbenen Tumormarker, die eine individualisierte Medizin versprechen, gibt es kaum vernünftige Daten." Ludwig ist wenig euphorisch, was die immer wieder beschriebenen Vorteile für Patienten angeht, "sieht aber die Gefahr, dass alles, was sich Biomarker nennt, vorschnell eingeführt wird, ohne dass der Nutzen für Patienten überhaupt geprüft ist".

Erstaunlich auch die Begründung, warum eine Methode, deren Vorteile nicht belegt sind, doch bitte weiter von den Kassen erstattet werden soll. Im Oktober 2010 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss, der darüber entscheidet, welche medizinischen Maßnahmen sinnvoll sind und von der Solidargemeinschaft bezahlt werden, befunden, dass die Positronenemissionstomographie (PET) bei Patienten mit Lymphomen nur noch in Ausnahmen erstattet werden soll. Es gebe keine zuverlässigen Beweise dafür, dass Patienten mit dieser Diagnosetechnik besser behandelt werden, weniger Nebenwirkungen bei der Therapie erleiden oder andere Vorteile hätten.

Die mächtige Interessenvertretung der Kliniken, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, veröffentlichte daraufhin im Deutschen Ärzteblatt (Bd. 108, S. A-320, 2011) einen Artikel, aus dem deutlich wurde, dass man doch nicht von einer Untersuchung lassen könne, nur weil sie keinen Vorteil bringt: "Ist eine Methode wie zum Beispiel die PET bei der Lymphomdiagnostik schon seit längerer Zeit etabliert, in zahlreichen Studien publiziert und Bestandteil nationaler und internationaler Leitlinien, entspricht die Forderung nach Durchführung weiterer randomisiert-kontrollierter Studien zum Nachweis eines patientenrelevanten Nutzens nicht mehr der Versorgungsrealität."

Dieser Bandwurmsatz bedeutet frei übersetzt: Wir nutzen die Methode schon lange, unsere internen Gremien finden das auch gut und deshalb wollen wir nicht mit der lästigen Frage nach Vorteilen für Patienten behelligt werden. "Der wirtschaftliche Druck in der Medizin ist viel zu groß", sagt Windeler. "Dabei ist für die Mehrzahl der Produkte, die neu in den Markt kommen, gar nicht belegt, dass der Nutzen größer ist als der Schaden." Immer neue Angebote in der Medizin steigerten nicht unbedingt die Qualität. "Dass weniger oft mehr ist, wollen aber viele Patienten nicht wahrhaben. Sie fürchten, dass man ihnen etwas wegnimmt und sie weniger Wahlmöglichkeiten haben - unabhängig davon, ob ein Nutzen erwiesen ist oder nicht."

Um den Nutzen zu erfassen, gibt es die Evidenzbasierte Medizin (EbM). Weltweit haben es sich Cochrane-Zentren zur Aufgabe gemacht, in großen Untersuchungen zu zeigen, was methodisch hochwertige Studien ausmacht und wie daraus Empfehlungen für die medizinische Praxis zu gewinnen sind. Das deutsche Cochrane-Zentrum in Freiburg leitet Gerd Antes. "Wir können es uns nicht leisten, eine Medizin zu betreiben, von der Patienten keine Vorteile haben", sagt er. "Leider werden gründliche Wirksamkeitsnachweise immer wieder bewusst ausgelassen oder unterlaufen, um Eigeninteressen zu schützen, die durch objektive Studienergebnisse bedroht wären."

Aktuelles Beispiel ist die Vermarktung eines "Neurostimulators" gegen Tinnitus. Peter Tass, Direktor am renommierten Forschungszentrum Jülich, hat das Gerät mitentwickelt, die Firma ANM vertreibt es. Der quälende Ton im Ohr lasse sich bekämpfen, wenn ihm eine andere Form der Beschallung entgegengesetzt werde, so die Ankündigung. Klingt logisch, ist aber bisher nicht wissenschaftlich bewiesen. Obwohl die Initiatoren behaupten, seit eineinhalb Jahren eine entsprechende Studie beendet zu haben, ist diese noch nicht erschienen. Und obwohl kein Nutzenbeweis vorliegt, bieten Dutzende Arztpraxen das Verfahren an.

Womöglich zeigt sich ja bald, dass die Töne gegen das Brummen tatsächlich helfen. Peter Tass wurde vorsorglich mit einem mit 100.000 Euro dotierten Innovationspreis ausgezeichnet. Die Deutsche Tinnitusliga erklärt auf ihrer Homepage einen Beitrag vom März 2010: "Die Daten reichen nicht aus, um eine gültige Aussage zur Wirksamkeit und zur Sicherheit dieser Behandlungsmethode zu treffen. Daher rät die Deutsche Tinnitusliga von dieser Therapie zum jetzigen Zeitpunkt ab."

Patienten, die in Selbsthilfegruppen organisiert sind, werdenebenfalls ungeduldig und fragen sich, warum die angekündigte Studie so lange auf sich warten lässt. "Leider gibt es immer wieder Beispiele dafür, dass Patienten wie Ärzte auf massive Weise desinformiert oder im Unklaren gelassen werden", sagt Gerd Antes. "Zwar hat die Nutzenbewertung in den vergangenen Jahren beeindruckend zugelegt, aber es gibt noch viele Schlupflöcher und mehr offene Fragen als Antworten."

Wolf-Dieter Ludwig wüsste einen einfachen Weg, wie die Medizin besser und dem Wahnsinn Einhalt geboten werden kann. "Wir brauchen mehr Geduld und gute Wissenschaft, aber daran mangelt es leider in etlichen Bereichen."

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