Millionen Menschen weltweit sind abhängig von Opioiden, meist synthetisch hergestellten Schmerzmitteln wie zum Beispiel Fentanyl oder aber von ihren Pendants der Drogenszene, allen voran Heroin. Besonders in den USA wütet eine Opioid-Krise, verursacht unter anderem durch eine zu laxe Verordnung von Rezepten. Im Jahr 2016 sind schätzungsweise 115 Menschen in den USA an einer Überdosis gestorben - pro Tag. Opioide sind die wirkungsvollsten Schmerzmittel der Medizin - mit leider manchmal erheblichen Nebenwirkungen. Auch in Deutschland bekommen Patienten täglich Opioide verordnet, beispielsweise während Operationen oder auch im Kampf gegen Tumorschmerzen.
Verfolgt man den Weg der Schmerzmedikamente auf ihrem Weg aus der Spritze durch die Haut oder von der Tablette im Magen hinein in die Blutbahn, kommt man schnell im Gehirn an; dort, wo sie an verschiedene Rezeptoren binden, die griechische Abkürzen tragen, µ zum Beispiel, gesprochen: Mü. In diesen Rezeptoren liegt die Antwort auf die an sich einfache Frage: Wie kann es gelingen, ein Opioid-Schmerzmittel zu entwickeln, das ebenso effektiv ist wie herkömmliche Präparate - nur ohne die verhassten Nebenwirkungen?
Auf der Suche nach einer Antwort lohnt sich ein besonderer Blick auf die µ-Rezeptoren. Die gängigsten Opioid-Medikamente, wie etwa Fentanyl, docken genau hier an und lösen damit zahlreiche Effekte aus, die mal gewünscht sind, mal nicht: Der Schmerz sinkt rapide, die Pupillen verengen sich, die Atmung wird flacher, und Patienten erleben je nach Dosierung ein Hochgefühl, das niemand beschreiben kann, der es noch nicht erlebt hat. Ein Hochgefühl, das süchtig machen kann.
Opioid-Rezeptoren sitzen nicht nur im Gehirn
Weil Opioide eine hohe Suchtgefahr mit sich bringen, ging man lange Zeit davon aus, dass µ-Rezeptoren ausschließlich im Gehirn angesiedelt sein müssen. Doch das stimmt nicht - ganz zur Freude der Opioid-Forscherinnen Viola Spahn und Giovanna Del Vecchio. Sie suchen im Team um den Schmerzforscher Christoph Stein am Campus Benjamin Franklin der Charité Berlin nach einem Opioid-Wirkstoff, der schmerzstillend ist, aber keine Euphorie auslöst und damit keine Sucht verursacht. Ihr Forschungsansatz: Es gibt eben nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper des Menschen Opioid-Rezeptoren - also auch dort, wo der Schmerz entsteht, in Organen, im Rücken, in Armen und Beinen.
Wie also wäre es, ein Opioid zu entwickeln, das nur dort, am Ort des Schmerzes wirkt und nicht im zentralen Nervensystem? Gelingt dies, würde das die weltweite Schmerzmedizin auf den Kopf stellen.
Spahn und Del Vecchio machen sich hierfür die Eigenschaft von verletztem Gewebe zunutze, das in Folge vieler zerstörter Zellen ansäuert. "Das ist ein gutes Selektionsmerkmal, mit dem wir das betroffene Gewebe von gesundem unterscheiden können", sagt Spahn. Nun müsste es gelingen, ein Medikament herzustellen, das sich in diesem angesäuerten Milieu besonders wohlfühlt und idealerweise ausschließlich dort an die Rezeptoren bindet.
Tatsächlich ist es den Forscherinnen zumindest in der Theorie gelungen, was sie sich vorgenommen haben: Sie haben gemeinsam mit Wissenschaftlern am Zuse-Institut in Berlin das Medikament mit dem sperrigen Namen NFEPP entworfen, ein fluoriertes Fentanyl-Derivat. Durch den Austausch von einem Wasserstoffatom mit einem Fluoratom bindet die Substanz genau dort, wo der Schmerz entsteht. In gesundem Milieu hingegen - und, ganz wichtig, eben auch im Gehirn - verliert NFEPP im Unterschied zu herkömmlichen Opioiden sein Interesse an den Rezeptoren.
In ersten Versuchen an Ratten, vorgestellt im Fachmagazin Science, konnte das Team um Spahn und Del Vecchio zeigen, dass NFEPP tatsächlich beinahe unwirksam im Gehirn ist. Ein erster Meilenstein war erreicht. "Wir hoffen, dass NFEPP das Schmerzmittel der Zukunft wird", sagt Viola Spahn.
"Der Ansatzpunkt der Arbeit ist sehr interessant und vielversprechend für klinische Studien", bestätigt Daniel Wacker, Pharmakologe an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York, der an der Studie nicht beteiligt ist. Genau diese klinischen Studien aber fehlen bislang, und so ist unklar, wie NFEPP im menschlichen Körper wirkt. Von Tier- und Laborexperimenten bis hin zur Klinik ist es weit, es gilt zu klären, wie die Substanz im Körper aufgenommen und abgebaut wird, ob Nebenwirkungen auftreten, die man in den Tierexperimenten nicht- oder übersehen hat.
All das kostet Zeit und Geld. Doch das Interesse der Pharmaindustrie an NFEPP hält sich bislang in Grenzen, wohl auch, weil Opioide kein besonders gutes Image haben. Ohnehin wird NFEPP nicht das ersehnte Wundermedikament sein. Mit ein paar Fluorketten alleine lässt sich die Opioid-Krise sehr wahrscheinlich nicht in den Griff bekommen. Viola Spahn und Giovanna Del Vecchio geben selbst zu bedenken, dass NFEPP höchstwahrscheinlich nicht alle Arten von Schmerzen behandeln könnte, darunter zum Beispiel manche chronische Schmerzen mit unklarer Ursache.
Schmerzrezeptoren sind komplexer als bislang gedacht
Hinzu kommt, dass konventionelle Opioide auch deshalb so effektiv sind, weil sie den Schmerz eben nicht nur am Ort des Geschehens lindern, sondern entlang der gesamten Nervenbahn bis ins Gehirn, also dort wo der Schmerz wahrgenommen wird. "Es bleibt abzuwarten, wie effektiv NFEPP oder ähnliche Medikamente im Vergleich zu herkömmlichen Opioiden tatsächlich sind", sagt Pharmakologe Wacker.
Auch aufgrund dieser Einschränkungen suchen Forschungsgruppen weltweit nach weiteren Opioid-Alternativen, die im Unterschied zu NFEPP nicht an μ-Rezeptoren binden, also jene Rezeptoren, die hauptsächlich für die schmerzlindernde Wirkung von Fentanyl, Morphin und Heroin verantwortlich sind. Zwar lösen auch die μ-Geschwister, der Delta-Rezeptor und der Kappa-Rezeptor, eine schmerzlindernde Wirkung aus, doch sehen Schmerzforscher und andere Wissenschaftler in ihnen eine weitere Chance, eines Tages ein nebenwirkungsarmes Schmerzmittel entwickeln zu können.
Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Rezeptoren nicht, wie lange geglaubt, so ähnlich wie ein normaler Lichtschalter funktionieren: an - aus. Vielmehr sind sie in der Lage, ganz unterschiedliche Signale in die Zelle zu schicken, je nachdem, welchen Übertragungsweg sie aktivieren. Dieses Phänomen heißt funktionelle Selektivität und ist die zweite große Hoffnung der Opioid-Forschung.
Erste Studien verschiedener Forschungsgruppen haben gezeigt, dass es möglich sein könnte, mithilfe der funktionellen Selektivität schmerzstillende Signale zu versenden, ohne Abhängigkeit oder Atemdepression auszulösen. Bislang ist das aber vor allem in Mausversuchen gelungen. Eine leider sehr wichtige Einschränkung, die für viel Frust sorgt. "Bislang verstehen wir die Mechanismen der funktionellen Selektivität noch nicht sonderlich gut", sagt Daniel Wacker. Hauptaufgabe der Forschung ist es, die Signalwege der unerwünschten Nebenwirkungen zu entschlüsseln und gezielt zu stören, ohne dabei aber die erwünschte schmerzstillende Wirkung zu durchbrechen.