Lärm stört nicht nur. Lärm macht krank und Lärm tötet. Menschen, die auf Dauer Verkehrslärm - besonders Fluglärm - ausgesetzt sind, leiden häufiger an Depressionen, Herzinfarkt, Herzschwäche und Schlaganfall. Ihr Schlaf ist beeinträchtigt und Kinder lernen im Umfeld von chronischen Lärmquellen, etwa in der Nähe von Flughäfen, langsamer.
Wofür Ärzte und Wissenschaftler bereits in kleineren Studien Hinweise gefunden haben, das belegt nun die bisher größte Untersuchung ihrer Art. Unter dem Akronym NORAH (für "Noise-Related Annoyance, Cognition and Health") analysierten Forscher die Auswirkungen von Flug-, Straßen- und Schienenverkehrslärm. Dazu wurden Krankenkassendaten von fast einer Million Menschen im Rhein-Main-Gebiet ausgewertet, zudem Vergleiche mit den Flughäfen Stuttgart, Köln-Bonn und Berlin-Brandenburg vor dem Ausbau gezogen. In mehreren Teilstudien untersuchten die Wissenschaftler fast fünf Jahre lang Fragestellungen zu den Themen Lebensqualität und Gesundheit.
Vor allem psychische Belastungen durch Fluglärm
"Der starke Zusammenhang von Lärm und Depression hat uns schon überrascht", sagt Rainer Guski von der Universität Bochum, der die Studie geleitet hat. "Auch den negativen Einfluss von Fluglärm auf das Lesenlernen bei Kindern hatten wir in dieser Klarheit nicht erwartet." Gleichzeitig erwiesen sich die Risiken für Herz und Kreislauf als nicht ganz so gravierend wie vermutet.
"Man kann es so sagen: Als Anwohner muss ich weniger Angst vor einem Herzinfarkt haben", so Guski. "Aber ich sollte mir darüber klar sein, dass Fluglärm eine starke psychische Belastung darstellt. Vor allem wenn ich psychisch empfindlich bin, kann es schädlich für mich sein, in der Nähe des Flughafens zu wohnen."
Die Untersuchung ergab, dass alle drei Arten Verkehrslärm dazu beitragen können, eine Depression zu entwickeln. Steigt die Belastung durch Fluglärm um zehn Dezibel, nimmt das Risiko für depressive Episoden durchschnittlich um 8,9 Prozent zu. Bei Straßenlärm steigt das Risiko pro zehn Dezibel um 4,1 Prozent, bei Schienenlärm um 3,9 Prozent. Allerdings sinkt das Risiko bei sehr hohen Schallpegeln leicht. Womöglich ziehen Menschen, die zu Depressionen neigen, dann an ruhigere Orte.
"Das sind beachtliche Ergebnisse, weil wir schon bei vergleichsweise niedrigen Schallpegeln von 35 Dezibel mit Berechnungen der Risiken begonnen haben", sagt Andreas Seidler von der Technischen Universität Dresden, der für die Untersuchung der Krankheitsrisiken verantwortlich war. "Viele andere Studien beginnen erst bei 50 oder 55 Dezibel."
Bei etlichen Anwohnern konnten die Forscher den Innenraumpegel abschätzen, also das, was tatsächlich in den Wohnräumen an Lärm ankommt. "War die Belastung im Innenraum groß, fanden wir für die Herzschwäche höhere Risiken als für entsprechende Außenpegel-Belastungen", sagt Seidler. "Der Dauerschallpegel allein reicht zur Ermittlung der Fluglärmwirkung nicht aus. Um Krankheitsrisiken durch Fluglärm zu ermessen, sind auch die nächtlichen Maximalpegel wichtig."
Die Risiken, einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder Herzschwäche zu entwickeln, waren - legt man den Dauerschallpegel zugrunde - beim Schienenlärm am größten, gefolgt von Straßen- und Fluglärm. "Schienenlärm erscheint heute nicht mehr so harmlos", sagt Guski. "Wir haben hier die höchsten Risiken für Herzkreislauf-Leiden gefunden." Insgesamt war die Gefahr für Herz und Kreislauf durch Lärm allerdings nicht so groß wie aus früheren Studien zu erwarten. Pro zehn Dezibel Lärmzuwachs stieg das Risiko um bis zu 3,9 Prozent.
Der Schlaf wird durch nächtlichen Fluglärm beeinträchtigt. Hier gibt es im Raum Frankfurt Entlastung, seit 2011/12 die Kernruhezeit von 23 bis fünf Uhr eingeführt wurde, in der planmäßige Starts und Landungen verboten sind. Die Anwohner wachten 2012 seltener nachts auf. Nicht alle Flughäfen halten die nächtliche Ruhezeit ein. Sonderregelungen gestatten vielerorts nachts Flugbewegungen. Der Stress, dem der Organismus durch Schlafstörungen ausgesetzt ist, wird vermutlich unterschätzt. "Es kann sein, dass viele Menschen es nicht bemerken, wenn sie nachts aufwachen, weil die Aufwachphase so kurz ist", sagt Arbeitsmediziner Seidler. "Beeinträchtigt ist der Schlaf trotzdem."
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Auch auf die kognitive Entwicklung wirkt sich Lärm negativ aus. In stark von Fluglärm belasteten Gebieten lernen Grundschulkinder langsamer lesen als Kinder in ruhigen Lagen. Eine Lärmzunahme von zehn Dezibel verzögert das Lesenlernen um einen Monat. Kinder, die Lärm ausgesetzt sind, fühlen sich zudem weniger gesund und ihre Eltern geben häufiger an, dass bei den Kindern eine Sprech- oder Sprachstörung diagnostiziert wurde.
Flughafenkritiker schliefen schlechter und bewerteten den Lärm negativer als andere Anwohner. "Das ist nicht verwunderlich, denn Lärm ist definiert als der Schall, der subjektiv stört", sagt Dennis Nowak, Chef der Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Universität München. "In einer italienischen Großfamilie mag ein hoher Geräuschpegel normal sein, einen isolierten Gefangenen können sie bereits mit dem Geräusch eines tropfenden Wasserhahns in den Wahnsinn treiben."
Allein im Rhein-Main-Gebiet sind fast 350 000 Menschen einem "24-Stunden-Mittelungspegel" von mehr als 50 Dezibel ausgesetzt, was einem lauten Kühlschrank oder Gesprächslautstärke entspricht. Anwohner des Frankfurter Flughafens fühlten sich stärker belästigt als in früheren Erhebungen, was bei der Zunahme des Flugverkehrs nicht verwundert. "Es gibt keinen Grund zur Entwarnung", sagt Andreas Seidler. "Die Risiken sind zwar geringer als jene durch Rauchen oder starkes Übergewicht, aber der Vergleich hinkt: Der Staat hat eine Fürsorgepflicht und muss Menschen schützen."
Dennis Nowak geht weiter und fordert leisere Flugzeuge und besseren Lärmschutz, "es gibt schließlich keinen Schwellenwert für die schädigende Wirkung von Lärm". Zudem fragt der Arzt, warum man von München nach Nürnberg fliegen können muss und zwei Maschinen gleichzeitig von München nach Berlin fliegen, statt Passagiere in ein größeres Flugzeug zu packen, das weniger Lärm macht. "Wir brauchen gesetzlich niedrigere Grenzwerte und mehr Schutz, aber der politische Wille fehlt", so Nowak. "Vielleicht sollte man überlegen, die Krankheitskosten, die auf Fluglärm zurückgehen, Fluglinien und damit Dauerfliegern aufzudrücken - und nicht wie bisher den Krankenkassen, die wesentlich von Menschen finanziert werden, die nicht ständig im Flieger sitzen."