Süddeutsche Zeitung

Medizin und Flucht:Der gefährliche Mythos vom kranken Migranten

  • Viele gängige Vermutungen zum Thema Migration und Gesundheit sind falsch, zeigen neue weltweite Untersuchungen im Fachmagazin Lancet.
  • Migranten sind demnach häufig überdurchschnittlich gesund und aktiv - Forscher sprechen vom "Healthy-Migrant-Effekt".
  • Zudem tragen Einwanderer auch viel für die Gesundheitssysteme wohlhabener Länder bei, etwa als Pflegekräfte.
  • Nur für wenige Krankheiten wie Tuberkulose ist den Studien zufolge die Sterblichkeit unter Migranten höher. Diese Leiden lassen sich aber häufig gut erkennen und behandeln.

Von Werner Bartens

Sie sind in einem schlechten Zustand und schleppen gefährliche Krankheiten ein. Bisher unbekannte oder längst vergessene Leiden breiten sich mit dem Zuzug der Neuankömmlinge aus und das Gesundheitswesen belasten sie sowieso. So oder ähnlich lauten gängige Mythen und Fehlannahmen in der öffentlichen Diskussion um Flüchtlinge und Migranten. Die Debatte ist ideologisch überfrachtet und vor allem von Vorurteilen und Stereotypen geprägt, da macht die Medizin keine Ausnahme.

Dass viele Vermutungen zum Thema Migration und Gesundheit nicht nur falsch, sondern auch schädlich sind und die Gesellschaft teuer zu stehen kommen, zeigen wissenschaftliche Untersuchungen deutlich. Das Fachmagazin Lancet hat aktuell den bisher wohl umfangreichsten Datensatz dazu vorgelegt. Die Studien und Analysen unter dem Titel "The health of a world on the move", nehmen mehr als 200 Seiten ein. In Berlin wurden sie gerade gemeinsam mit der humanitären Organisation "Ärzte der Welt" vorgestellt. Die Menschenrechtsvereinigung beleuchtet zudem in ihrem Bericht "Verwehrtes Recht auf Gesundheit - Krank und ohne medizinische Versorgung in Deutschland" die Lage von Migranten und anderen Menschen ohne Versicherungsschutz.

Migranten haben oft eine extrem gute Gesundheit. Sonst hätten sie die Strapazen nicht überstanden

In Zeiten, da jedes Land nur auf die eigenen Herausforderungen angesichts der Flüchtlingsströme zu schauen scheint, hilft die Lancet-Serie den Blick zu weiten. Migration ist kein vorübergehendes Problem. Mehr als eine Milliarde Menschen sind derzeit auf der Flucht oder haben aus anderen Gründen ihre Heimat verlassen - übrigens machen internationale Migranten "nur" geschätzte 258 Millionen Menschen und damit ein Viertel aus, die übrigen drei Viertel sehen sich gezwungen, innerhalb ihres Heimatlandes den Wohnort zu wechseln. Der Anteil der internationalen Migranten ist seit 1990 nicht viel größer geworden. Damals betrug er 2,9 Prozent, 2017 lag er global bei 3,4 Prozent.

Migranten werden oft nur als Bürde für das Gesundheitssystem gesehen, dabei tragen Menschen aus Polen, Rumänien, Bulgarien, aber auch aus Asien und Afrika in vielen wohlhabenden Ländern in der Pflege und anderen medizinischen Bereichen dazu bei, dass die Betreuung der Alten und Kranken überhaupt aufrechtzuerhalten ist. Das gilt auch in akademischen Berufen, so haben 37 Prozent der in Großbritannien tätigen Ärzte ihren Abschluss in einem anderen Land gemacht.

Metaanalysen mit 15 Millionen Teilnehmern aus 92 Ländern zeigen zudem, dass die Sterblichkeit von Migranten in wohlhabenden Staaten sogar unterhalb jener der einheimischen Bevölkerung liegt. Das bezieht sich sowohl auf Herzkreislauf-Leiden und Krebs, aber auch auf Krankheiten des Verdauungstraktes, der Atemwege und auf Nervenleiden. Etliche chronische Krankheiten sind in ärmeren Ländern, aus denen die Migranten kommen, seltener - weil sich die Menschen dort oft als Folge eines anderen Lebensstils mehr bewegen und gesünder ernähren.

"Migranten sind häufig überdurchschnittlich gesund und aktiv, sonst könnten sie gar nicht migrieren", sagt Oliver Razum, der an der Universität Bielefeld zu Gesundheit und Migration forscht. "Man spricht vom Healthy-Migrant-Effekt, dem Paradox des gesunden Migranten." Paradox deshalb, weil Migranten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung eine niedrigere soziale Position einnehmen, was bekanntlich ein Krankheitsrisiko darstellt.

Einzig für Hepatitis, Tuberkulose und HIV war nach den Untersuchungen im Lancet die Sterblichkeit unter den Migranten erhöht. Allerdings zeigen verschiedene Studien, dass die Ansteckungsgefahr - etwa durch Tuberkulose - deshalb nicht für die Allgemeinbevölkerung größer ist, sondern nur unter den Migranten. "Flüchtlinge, Asylsuchende und illegale Einwanderer sind zwar häufiger von zusätzlichen Gesundheitsproblemen betroffen und schlecht versorgt - aber die Politik sollte sich nicht an diesen Ausnahmen ausrichten, sondern den gesundheitlichen Nutzen der Migration zur Hauptgrundlage ihrer Entscheidungen machen", so die Lancet-Autoren.

Wenn Geflüchtete aus Ländern kommen, in denen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose häufiger sind als in Deutschland, haben sie auch ein entsprechend höheres Risiko, eine solche Krankheit mitzubringen. "In aller Regel sind die betreffenden Krankheiten aber gut zu erkennen und zu behandeln und es ist selten, dass sie sich in der Mehrheitsbevölkerung ausbreiten", sagt Gesundheitswissenschaftler Razum. "Dass Geflüchtete Ebola mitbringen, ist dagegen höchst unwahrscheinlich - sie könnten die Reise kaum antreten oder überleben." Wenn in jüngster Zeit Krankheiten über Kontinente hinweg übertragen wurden, war die Verbreitung zumeist auf Fernreisen, Tourismus oder den Transport infizierter Tiere zurückzuführen - aber nicht auf Migrationsbewegungen.

Wie häufig Migranten krank sind und wie oft sie das Gesundheitssystem beanspruchen, hängt von ihren Lebensumständen in Deutschland ab. "Harte körperliche Arbeit, schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder gar offene Diskriminierung und Rassismus erhöhen das Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen", sagt Razum. "Aber auch diese Nachteile werden oft über viele Jahre durch den Healthy-Migrant-Effekt überdeckt."

"Für die globale Gesundheit gibt es derzeit kein dringenderes Problem"

Wenn über die Gesundheitskosten geklagt wird, die Migranten verursachen, sollte zudem bedacht werden, dass Geflüchtete hauptsächlich unter Problemen leiden, die zumeist anfangs auftreten, einfach zu behandeln und dann zumeist schnell verschwunden sind, etwa Krätze, Durchfall- und Atemwegserkrankungen. Bedeutsamer ist, dass sie häufig psychisch traumatisiert sind. Welche Behandlung in solchen Fällen angemessen ist, Psychotherapie oder niedrigschwellige Interventionen, wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert.

Die Behandlung Geflüchteter kostet zwar Geld, aber dieses Geld bleibe im deutschen Gesundheits- und Wirtschaftssystem, argumentiert Razum. "Im Falle einer gelingenden Integration tragen Geflüchtete zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes bei", sagt der Gesundheitsexperte. "Klar ist mittlerweile, dass der eingeschränkte Anspruch auf gesundheitliche Leistungen in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland zu höheren Kosten führt als der sofortige Anspruch auf die Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung."

Migrationshintergrund ist nur ein Merkmal unter vielen, aber selten ein medizinischer Risikofaktor. "Wie wir mit dem Befinden und der Gesundheit von Migranten umgehen, wird unsere Gesellschaften auf Generationen hinaus prägen", sagt Richard Horton, Herausgeber des Lancet. "Für die globale Gesundheit gibt es derzeit kein dringenderes Problem." Für Experten wie Oliver Razum leitet sich nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch als Schlussfolgerung aus den bisher vorliegenden Daten ab, dass der Anspruch auf gesundheitliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Menschen in Deutschland gelten muss - "auch für Geflüchtete in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts, auch für ,irreguläre' Migranten und auch für diejenigen EU-Bürger, die rechtlich noch nicht gleichbehandelt werden".

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Quelle:
SZ vom 13.12.2018
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