Süddeutsche Zeitung

Probleme bei der Hirntod-Feststellung:Diagnose in der Dämmerung

Acht falsche Hirntod-Diagnosen innerhalb von zwei Jahren: Ärzte machen auf diesem höchst sensiblen Gebiet zwar selten, aber dennoch zu viele Fehler. Nun streiten Experten, wie sicher die Diagnose ist - und ob neue Untersuchungsmethoden oder mehr Aufklärung vonnöten sind.

Von Christina Berndt

"Ihre Frau ist jetzt tot. Auch wenn Ihnen das nicht so vorkommt, weil sie noch beatmet wird und das Herz schlägt: Ihr gesamtes Gehirn ist ausgefallen. Sie wird nicht mehr ins Leben zurückkehren." So oder so ähnlich teilen Ärzte Menschen mit, dass bei ihren Angehörigen der Hirntod eingetreten ist. Dass sie sich jetzt dazu entschließen könnten, die Organe des Verstorbenen für die Spende freizugeben.

Aber können die Angehörigen der Diagnose vertrauen? Darüber streiten Fachleute noch intensiver als bisher, seit acht Fälle aus der Zeit zwischen Mai 2011 und März 2013 aufgetaucht sind, in denen Ärzte den Hirntod regelwidrig festgestellt haben (SZ vom 18.2.14).

In diesen acht Fällen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen fiel die ungültige Diagnose noch auf, bevor es zur Organentnahme kam. In einem weiteren, länger zurückliegenden Fall wurden jedoch trotz Fehlern bei der Hirntodfeststellung einem Kleinkind Organe entnommen. Zwar versicherten Fachleute später, das Kind sei trotz der mangelhaften Diagnostik tot gewesen. Dennoch stellt sich die Frage: Müsste nicht verlangt werden, dass Ärzte vermehrt technische Hilfsmittel anwenden, um ihre Einschätzung abzusichern?

Die für die Qualität der Hirntoddiagnostik verantwortliche Bundesärztekammer betont: Die Qualität sei "gesichert und sehr hoch". Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) räumt zwar ein, "Fehler seien nicht zu hundert Prozent vermeidbar", aber ihre Zahl extrem niedrig. So seien mit sechs regelwidrigen Hirntodfeststellungen aus Bayern nur 0,67 Prozent der Diagnosen des entsprechenden Zeitraums fehlerhaft gewesen. Zudem seien die Fehler rechtzeitig entdeckt worden.

Auch Stefanie Förderreuther vom Neurologischen Konsiliardienst der Universität München ist überzeugt: "Die Diagnose des Hirntodes ist die sicherste Todesdiagnose in der Medizin." Die Neurologin wird immer wieder hinzugerufen, wenn Ärzte bei der Hirntodfeststellung unsicher sind. "Die Ärzte gehen extrem sorgfältig und gewissenhaft vor und fragen bei Unsicherheiten nach", sagt Förderreuther.

Zwar räumt auch sie ein: "Es gibt kein System, das stets fehlerfrei arbeitet." Eben deshalb verlangten die Richtlinien der Bundesärztekammer, dass zwei Ärzte unabhängig voneinander die Diagnose stellen. Fehleinschätzungen durch die ersten Untersucher kämen vor. Aber diese würden bei der Zweituntersuchung auffallen. Außerdem habe sie in 25 Jahren keinen einzigen Fall erlebt, in dem Patienten mit einer falschen Erstdiagnose ihre Hirnverletzung überlebt haben.

Andere Fachleute meinen hingegen, es seien schlicht zu viele Fehler - zumal auch Zweitgutachter Fehler machten. Und bei den 0,67 Prozent handele es sich nur um jene Fälle, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. "Man muss sich einmal vorstellen, es gäbe in einer Klinik eine solche Fehlerquote beim Zurücklassen von Tupfern oder Instrumenten im Körper des Patienten - niemand würde sich dort mehr operieren lassen", sagt Christoph Goetz, neurochirurgischer Chefarzt in Hamburg mit langjähriger Erfahrung in der Hirntoddiagnostik. "Dass fehlerhafte Diagnosen dieser Tragweite ignoriert werden, ist völlig unverständlich." Auch wenn Patienten ohnehin bald sterben: "Wenn wir an diesem Punkt unpräzise werden, geben wir alles auf, was uns lieb und heilig ist."

Derzeit wird in der Hirntoddiagnostik vor allem auf Erfahrung gesetzt. So heißt es auch in der entsprechenden Arbeitsanweisung der DSO, Untersuchung und Wertung der Ergebnisse liegen "in der Zuständigkeit und Verantwortung der erfahrenen Untersucher". Stefanie Förderreuther hält das für richtig: "Man kann den Hirntod nicht bestimmen, indem man eine Checkliste abarbeitet", sagt sie. Vielmehr müssten wie in einem Mosaik alle Steinchen zusammenpassen. Von Fall zu Fall seien andere Untersuchungen notwendig.

An Erfahrung aber mangelt es. Denn insgesamt gibt es in Deutschland nur rund 2000 Hirntote pro Jahr. Möglich ist die Diagnose aber an allen 1200 Krankenhäusern mit einer Intensivstation. Es lässt sich leicht ausrechnen, wie selten Ärzte an einem kleineren Krankenhaus auf einen Hirntoten treffen. Und die dortigen Ärzte sind keineswegs verpflichtet, Fachleute wie Stefanie Förderreuther hinzuzuziehen.

Das sei bei der Frage nach Leben oder Tod kein vertrauenswürdiger Umstand, meint die Physikerin und Philosophin Sabine Müller vom Forschungsbereich "Mind and Brain" an der Berliner Charité. Sie setzt sich dafür ein, die Hirntoddiagnostik auf einen wissenschaftlich verlässlichen Stand zu bringen und den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen grundsätzlich durch Techniken wie SPECT oder EEG zu überprüfen. Diese messen, ob das Gehirn noch durchblutet ist und Nervenzellen aktiv sind.

Die Hirntodfeststellung muss praktikabel bleiben

Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer reichen klinische Untersuchungen fast immer aus: So testen Ärzte, ob der Patient noch über Reflexe verfügt, die ihn dazu bringen, zu würgen, die Augen zu verdrehen oder nach Luft zu schnappen. Doch nach Ansicht Müllers könnte es auch nach dem Ausfall der Reflexe im Gehirn noch eine gewisse Aktivität geben. So wurde auch bei zwei der acht aktuellen Fälle der Hirntod zunächst durch klinische Anzeichen festgestellt. Erst eine EEG-Untersuchung kam zu einem anderen Ergebnis.

Stefanie Förderreuther ist trotzdem gegen mehr Technik: "Die apparativen Zusatzuntersuchungen machen die Hirntoddiagnose nicht sicherer", sagt sie. Diese führten mitunter sogar zu Fehleinschätzungen. "Ich hätte einmal eine Patientin beim alleinigen Betrachten einer CT-Aufnahme ihres Gehirns für tot gehalten", erzählt Förderreuther, so groß erschien der Schaden. "Aber die klinische Untersuchung hat klar belegt, dass sie noch lebte." Am meisten Verlass sei immer noch auf neurologische Untersuchungen: "Wir wissen, welche Reflexe sich nicht mehr erholen."

Auch die Richtlinien der Bundesärztekammer betonen, der Hirntod könne "in jeder Intensivstation auch ohne ergänzende apparative Diagnostik festgestellt werden". Kritiker meinen, dies sei gewollt, um die Hürden für die Diagnose niedrig zu halten. Nicht jedes Krankenhaus verfügt über die notwendigen Apparate. Der Gedanke ist nicht völlig von der Hand zu weisen: Würden zu viele Anforderungen an die Hirntoddiagnostik gestellt, könnte diese in kleinen Krankenhäusern womöglich nicht mehr stattfinden, meint Förderreuther. "Auch wenn die Sicherheit nicht gefährdet werden darf: Der Prozess der Hirntodfeststellung muss letztlich praktikabel sein."

Einfacher wäre eine Blutuntersuchung. Sie könnte feststellen, dass der Patient keine Medikamente bekommen hat, die die Diagnose unsicher machen. So werde in der Hektik im Rettungswagen mitunter vergessen, die Gabe solcher Mittel zu notieren, fürchtet Gundolf Gubernatis, ehemaliger geschäftsführender Arzt der DSO: "Und wenn ein Mensch, der Medikamente nimmt, einen Unfall erleidet, stehen die Arzneien sowieso in keiner Akte."

Stefanie Förderreuther hält dagegen die Blutanalyse nur bei Verdacht auf eine Vergiftung für notwendig. "Der Hirntod stellt sich extrem selten an dem Tag ein, an dem ein Patient ins Krankenhaus eingeliefert wird", sagt sie. Gemeinhin vergingen drei bis vier Tage. "Bis dahin ist die Wirkung der Arzneien abgeklungen", so die Ärztin.

Im Krankenhaus verabreichte Schlaf- oder Schmerzmittel müssen rechtzeitig vor der Hirntodfeststellung abgesetzt werden, damit sie das Ergebnis nicht beeinflussen. Aber welche Medikamente in welchem Maße stören, ist wie viele andere Aspekte der Hirntoddiagnostik kaum erforscht, bestätigt auch die DSO. So ist bekannt, dass ein hoher Natriumwert im Blut das Gehirn in einen Dämmerzustand versetzt, so dass der Hirntod nicht mehr zuverlässig festgestellt werden kann. Aber wie viel Natrium ist zu viel?

Wer den Hirntod feststellen darf, muss nie zuvor einen Hirntoten gesehen haben

Ebenso unklar ist, wie kühl der Körper des Patienten sein darf, wie viel Kohlendioxid beim Atemtest zugefügt werden muss und wie viel Zeit zwischen den beiden Hirntoduntersuchungen mindestens vergehen muss und höchstens vergehen darf, um sicher zu gehen, dass nicht einfach die äußeren Umstände das Gehirn vom Arbeiten abhalten. Für viele Regeln bei der Hirntoddiagnostik gebe es "keine gesicherte Evidenz", sagte Sabine Müller im Herbst während der Jahrestagung der DSO.

Ebenso wenig sei festgeschrieben, was genau Ärzte, die den Hirntod feststellen, wissen müssen, beklagt Christoph Goetz: Ärzte bräuchten für alles Mögliche einen Fortbildungsnachweis. "Es ist nicht zu begreifen, dass ausgerechnet auf diesem sensiblen Gebiet die Ansprüche so niedrig sind." Wer den Hirntod feststellen darf, muss nie zuvor einen Hirntoten gesehen haben. In diesem Punkt hat die DSO inzwischen eingelenkt: Es sei auch in ihrem Interesse, "die Anforderungen an die Qualifikation der Ärzte für eine Hirntoddiagnostik zu verschärfen", teilte sie mit, schob aber den schwarzen Peter der Ärztekammer zu: Das sei deren Aufgabe.

Bei der Bundesärztekammer gibt man sich verschlossen. Die Richtlinien würden derzeit durch den Wissenschaftlichen Beirat überarbeitet, hieß es, ohne Veränderungen in Aussicht zu stellen. Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 1997.

"Aus neurowissenschaftlicher Sicht" sei das "uralt", meint Sabine Müller. Dennoch müsse nichts Grundsätzliches geändert werden, glaubt Stefanie Förderreuther, die dem Beirat angehört: "Die Richtlinien sind wasserdicht. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich nicht daran glauben würde."

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Quelle:
SZ vom 04.03.2014/rus
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