Fallpauschalen:Psychiater befürchten Verschlechterungen für Schwerkranke

Die Finanzierung der psychiatrischen Kliniken wird derzeit neu geregelt. Das ist nicht nur eine bürokratische Bürde für die Häuser, sondern könnte sich negativ auf die Versorgung der Patienten auswirken.

Von Berit Uhlmann

Wer Tag für Tag mit der Depression kämpft, wer monatelang Angst oder wahnhafte Gedanken erlebt, wünscht sich bisweilen, er hätte einen entzündeten Blinddarm: raus mit dem, was so quält, zunähen, fertig. Die Seele lässt sich freilich nicht so einfach reparieren; das wurde auch berücksichtigt, als die Bundesregierung 2004 neue Abrechnungsregeln in deutschen Krankenhäusern einführte. Die psychiatrischen Kliniken behielten einen Sonderstatus und mit ihm historisch gewachsene Ungleichheiten: Noch heute bekommen manche Kliniken nur halb so viel für ihre Arbeit wie andere. Gerechtere und transparentere Regeln wurden nötig - und so erlebt das Fachgebiet gerade einen der größten Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte.

Spätestens von 2019 an müssen sich nun auch die psychiatrischen Krankenhäuser einem pauschalisierten Abrechnungssystem beugen. Die Politik ist der Psychiatrie dabei ein Stück weit entgegengekommen. Die Kliniken erhalten - wie auch bisher - Tagessätze für ihre Patienten. Doch die neuen Sätze variieren je nach Erkrankung und nehmen im Laufe der Zeit tendenziell ab.

Das bedeutet, dass manche Leiden sich mehr rechnen als andere. Unkomplizierte Störungen mit einfachen Therapiekonzepten und schnellen Entlassungen dürften wirtschaftlich reizvoller sein, fürchten die Kritiker.

Derzeit läuft eine Übergangphase, die Psychiater haben noch Zeit, sich an das neue System zu gewöhnen. Bislang stößt es allerdings überwiegend auf Skepsis und Sorgen. Die Fachärzte und Psychologen bezweifeln, dass sich die hochkomplexen seelischen Erkrankungen in die Schablonen der Fallpauschalen pressen lassen.

"Zwei Drittel der psychisch Kranken haben mindestens zwei verschiedene Diagnosen", sagt Oliver Pogarell von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU. Wenn ein Patient mit Angststörung immer seltener das Haus verlässt, kann er zusätzlich an einer Depression erkranken. Wenn er sein Leid mit Alkohol bekämpft, kann dieser Versuch obendrein in eine Suchterkrankung münden. Seelische Krankheiten können auch auf dem Boden von körperlichen Leiden entstehen. Bis zu 50 Prozent aller Patienten mit Multipler Sklerose und Morbus Parkinson entwickeln eine Depression. Umgekehrt erhöht eine Depression beispielsweise das Risiko für eine Diabetes-Erkrankung.

Auch die Umwelt wirkt auf die Psyche ein. Konflikte in der Familie oder am Arbeitsplatz können psychische Probleme auslösen oder eine Heilung verzögern. Denn auch die Verläufe unterscheiden sich stark; manche Patienten in einer akuten Krise erholen sich rasch. Andere brauchen lange, um wieder Fuß zu fassen. Rückfälle sind keine Seltenheit; eine mühsam erarbeitete Stabilität kann schnell wieder schwinden.

Deshalb sind Zeit und Personal so wichtige Ressourcen in der Psychiatrie. "Doch das neue Abrechnungssystem unterschätzt die Komplexität psychischer Erkrankungen - und den Fakt, dass sie höchst individuelle Behandlungsangebote erfordern", sagt Pogarell. Er fürchtet, dass vor allem schwer kranke Patienten mit einer Unterversorgung rechnen müssen.

"Jede Einsparung geht an die Substanz"

Sie verlieren den Schutz des Krankenhauses womöglich früher, als ihnen guttut. Dies ist in einigen Regionen Deutschlands besonders heikel. Vor allem im Osten und in ländlichen Gegenden fehlen ambulante Therapieplätze. Kranke müssen wochen- oder monatelang auf eine Weiterbehandlung warten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie schnell wieder in die Klinik zurückkehren; den berüchtigten "Drehtüreffekt" fürchten nun auch die Psychiater. "Die Einführung der neuen Vergütungen wird die Finanzierung psychiatrischer Leistungen wahrscheinlich vielerorts verschlechtern", warnt daher Oliver Pogarell.

Denn für die psychiatrischen Kliniken stellt sich das besondere Problem, dass sie ein Minus - etwa durch personalintensive, individuelle Behandlungen - nur schwer kompensieren können. Das klassische Krankenhaus kann Verluste unter Umständen durch lukrative Untersuchungen oder Eingriffe ausgleichen. Der Psychiatrie bleiben nur Personalkürzungen, warnen Fachleute. Jede Einsparung "geht damit an die Substanz", sagt Jörg Fegert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Die Therapeuten, die Kinder behandeln, fürchten die Auswirkungen der neuen Fallpauschalen besonders. Das wurde auch auf dem Kongress der Kinder- und Jugendpsychiater deutlich, der vergangene Woche in München tagte. Da Kinder eine sehr enge Betreuung brauchen, ist der Personalaufwand in den jugendpsychiatrischen Häusern sehr hoch.

Gerade bei Minderjährigen ist es mit einer Stärkung der Seele nicht immer getan; auch die Familie und soziale Aspekte des Lebens spielen eine Rolle. "Psychisch kranke Kinder können manchmal nicht in ihre Ursprungsfamilie zurückkehren. Wir müssen dann Lösungen für diese Kinder finden, das braucht Zeit", sagt Franz Joseph Freisleder, Direktor des Heckscher-Klinikums für Kinder und Jugendpsychiatrie in München. Doch die Dauer der sozialen Unterstützung oder gar der Behandlung lässt sich nicht einfach verkürzen. Fegert kommentiert lakonisch: "Es mag ja sein, dass ein Chirurg durch viel Übung irgendwann schneller operiert, wir können auch durch noch so viel Training nicht schneller reden."

PEPP wird das neue Abrechnungssystem genannt. Die Abkürzung von "Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik" klingt durchaus dynamisch. Doch die Fachleute fürchten das Gegenteil: dass es ihnen eine zähe Bürokratie beschert. "Die Abrechnung ist kompliziert und kleinteilig", sagt Pogarell. Die Fachärzte müssen nun jede einzelne Handlung dokumentieren.

Dieser höhere Verwaltungsaufwand werde wiederum Zeit kosten. Zeit, die nicht nur für die Behandlung der Patienten fehlt, sondern auch für Gespräche mit den Angehörigen, den Austausch mit Kollegen und die Lehre. "Schon jetzt befassen sich zwei Drittel unserer Fortbildungen und Konferenzen nicht mehr mit neuen Erkenntnissen unseres Fachgebietes, sondern allein mit wirtschaftlichen Themen", sagt Freisleder. Es wirkt wie ein Vorgeschmack auf eine Entwicklung, die die Klinikpsychiater am meisten fürchten: dass irgendwann das ökonomische Denken über das Heilen und Lehren dominiert.

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