Nora entdeckt heute die Welt mit geschlossenen Augen. Eine blaue Binde um den Kopf geschlungen, den Mund leicht geöffnet, beugt sie den Oberkörper nach vorn. Noch ahnt die Sechsjährige nicht, was sie erwartet, noch ist sie skeptisch, ob es ihr gefallen wird. Vorsichtig legt die Testleiterin ihr mit einem Zahnstocher einen hellgrünen Würfel auf die Zunge. Nora schließt den Mund, beginnt langsam zu kauen. "Apfel", sagt sie und grinst zufrieden.
Am Tisch nebenan hat das zierliche Mädchen bereits an Vanillestangen gerochen und ein Blatt Minze zwischen den Händen zerrieben, Kartoffeln berührt und krachenden Beißgeräuschen gelauscht, in einem Feuerwerk für die Sinne. "Wir nutzen die natürliche Neugier der Kinder aus, um sie spielerisch an neue Lebensmittel heranzuführen", sagt Angela Dietz, Ökotrophologin am Kompetenzzentrum für Ernährung in Freising (KErn). Damit die Kleinen neben Pommes und Schokolade auch an Karotten und Äpfeln Gefallen finden. Wie und wann der Geschmack eines Menschen geprägt wird, können Molekulargenetiker und Mediziner, Ernährungswissenschaftler und Psychologen zunehmend besser definieren. Und wie sie die Prägung beeinflussen können, etwa in einem Parcours der Sinne wie in Freising.
In Kindergärten und Grundschulen setzen Angela Dietz und ihre Kolleginnen den Parcours ein, erklären den jungen Teilnehmern auch, wie der menschliche Körper überhaupt Geschmack empfindet. Dafür bittet Angela Dietz Nora und die anderen Kinder, sich die Nase zuzuhalten. Dann schüttet die Ökotrophologin weißes Pulver in einen Plastiklöffel, den sich die Erstklässlerin in den Mund steckt. "Zucker!", ruft sie sofort. Als das Mädchen seine Nase loslassen darf, staunt es: "Das ist ja Vanillezucker." Erst wenn die im Essen gelösten Duftstoffe die Riechschleimhaut der Nase erreichen, nimmt der Mensch die unterschiedlichen Aromen wahr, wird Nora später erfahren ( siehe Kasten).
Begeistert verlangt das Mädchen sogleich nach einer weiteren Zuckerprobe. "Die Vorliebe für Süßes ist Kindern angeboren", sagt Wolfgang Meyerhof, Leiter der Abteilung für Molekulare Genetik am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Im Laufe der Evolution hat sich der Hang dazu bereits sehr früh ausgebildet. Süßes versprach den Frühmenschen nämlich einen hohen Energiegehalt, zum Beispiel aus Früchten. Die Schleckermäuler unter ihnen hatten daher größere Chancen zu überleben als andere. Pflanzengifte dagegen haben oft einen bitteren Geschmack, die Abneigung gegen das Grünzeug bewahrte einst schon die Jäger und Sammler vor dem Tod. Und ist vermutlich der Grund dafür, dass Kinder bittere Lebensmittel zunächst ablehnen.
Seit wenigen Jahren wissen Forscher, wie der Mensch bitter und süß wahrnimmt, die Andockstellen im Körper - die Geschmacksrezeptoren - sind besonders gut untersucht. Nur eine einzige Art von Süßrezeptoren kommt beim Menschen vor, sie reagiert jedoch auf ganz unterschiedliche Moleküle - auf die klebrige Zuckerwatte wie auch auf die Ananas. Die Aromen docken an verschiedenen Untereinheiten des Rezeptors an, er gleicht einem polyglotten Gastwirt, der Menschen mit ganz unterschiedlicher sprachlicher Herkunft in seinem Wirtshaus mit immer derselben Willkommensfloskel begrüßt.
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Unter den Bitterrezeptoren dagegen finden sich im Durchschnitt 25 Typen, die auf unterschiedliche Gruppen von Bitteraromen reagieren - wie ein Gastwirt, der nur auf ganz bestimmte Sprachen reagiert. Mal sind es mehr, mal weniger Bitterstoffe, die andocken können, mal aktivieren auch die-selben Bitterstoffe verschiedene Rezeptortypen. "So funktioniert die Abwehr von Giften noch, wenn ein Rezeptortyp ausfällt", sagt Meyerhof.
Zusätzlich kommt jeder einzelne Typ noch in verschiedenen Genvarianten vor, die für die jeweiligen Bitterstoffe mehr oder weniger empfindlich sind. "Wir haben eine Genvariante gefunden, die sich entwicklungsgeschichtlich sehr schnell durchgesetzt hat", sagt der Biochemiker Wolfgang Meyerhof. Vor mindestens 77 000 Jahren verschaffte die Genvariante den damaligen Jägern und Sammlern einen wichtigen Überlebensvorteil - sie codiert nämlich für einen Geschmacksrezeptor, der besonders empfindlich auf bestimmte Pflanzengifte reagiert. Die Träger der Genvariante mieden die Pflanzengifte besonders effektiv und zeugten so mehr Nachkommen als andere. Noch heute schmecken manche Menschen Bitterstoffe intensiver als andere. So haben Forscher eine Genvariante entdeckt, deren Träger bittere Gemüsesorten wie Kresse, Kohl, Kohlrabi, Brokkoli oder Meerrettich nur ungern essen.
Auch Nora musste den Genuss von Gemüse erst lernen, Auberginen mag sie noch heute nicht. Wie viele Kleinkinder begegnete sie neuem Essen anfangs ängstlich - Wissenschaftler nennen das Phänomen Neophobie. Die Phase beginnt vermutlich gegen Ende des ersten Lebensjahrs, kann bis ins Grundschulalter währen und ab dem Alter von zwei Jahren besonders ausgeprägt sein. "Diese Angst müssen Kinder aktiv verlernen", sagt Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund. Indem sie Lebensmittel immer wieder probieren.
Acht- bis zehnmal müssen Eltern ihren Kindern ein zunächst abgelehntes Nahrungsmittel vorsetzen, bis sie es genauso gern essen wie eines, das sie auf Anhieb gern verspeisten, so eine europäische Studie. "Die genaue Anzahl der Versuche ist dabei unwichtig - Eltern sollten nur wissen, dass sie die Lebensmittel geduldig anbieten sollten, immer und immer wieder", sagt Kersting. Ohne die Kinder unter Druck zu setzen.
Wie viele verschiedene Gemüsesorten Babys im fünften und sechsten Lebensmonat kennenlernen, kann deren Geschmacksvorlieben über Jahre prägen, ergab eine Studie an deutschen und französischen Kindern. Manche Säuglinge bekamen anfangs jeden Tag einen anderen Gemüsebrei vorgesetzt - Karotte, Artischocken, grüne Bohnen, Kürbis im Wechsel. Sie aßen noch im Alter von sechs Jahren mehr von einem neuen Gemüse als jene Babys, bei denen die Gemüsesorte zu Anfang nur alle drei Tage oder sogar nur alle zehn Tage wechselte. Frühe Abwechslung zahlt sich also langfristig aus.
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Vielleicht gilt das schon vor der Geburt des Kindes. Wenn Mütter viel Karottensaft während der Schwangerschaft oder der Stillzeit trinken, essen die Babys lieber karottenhaltigen Getreidebrei als andere Säuglinge, ergab eine amerikanische Studie vor einigen Jahren. Allerdings waren die getrunkenen Mengen groß - 300 Milliliter Saft pro Tag an vier von sieben Tagen, mehr als zwei Monate lang. "Wir wissen auch gar nicht, was von dem Karottensaft tatsächlich in der Muttermilch gelandet ist. Die wurde gar nicht untersucht", sagt Andrea Büttner, Professorin für Aromaforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Um zu erfahren, was in der Muttermilch ankommt, hat die Arbeitsgruppe um Büttner die Muttermilch verschiedener Frauen nach dem Verzehr von Fischöl-Kapseln, verschiedener Stilltees sowie von Knoblauch untersucht. "Von den Stilltees und dem Fischöl konnten wir keinerlei Spuren finden", sagt die Lebensmittelchemikerin. Vom Knoblauch fanden sie immerhin ein danach riechendes Abbauprodukt. "Viele natürliche Aromen sind labil und werden im Körper abgebaut", sagt Büttner. Außerdem gebe es von Frau zu Frau große Unterschiede, ob zum Beispiel Abbauprodukte des Knoblauchs in der Muttermilch zu finden sind oder auch Eukalyptus.
"Vermutlich spielt es eine größere Rolle, dass das Baby beim Kochen an der Schulter der Mutter hängt. Oder dass beim Stillen die Haut und die Kleidung der Mutter nach bestimmten Nahrungsmitteln oder Gewürzen riechen. Dennoch empfehlen Ernährungswissenschaftler, auf eine abwechslungsreiche Kost in der Schwangerschaft zu achten. "Wir wissen, dass es bei manchen Frauen positive Folgen haben kann. Negative sind dagegen nicht zu befürchten", sagt die Dortmunder Forscherin Kersting.
Wie wichtig die Ernährung von Beginn an ist, hat auch Caroline Meinert* früh erfahren. Schon lange hatte sie sich vorgenommen, an Gewicht abzunehmen. "Erst nach der Schwangerschaft habe ich es geschafft", sagt Meinert. 14 Kilogramm hat sie abgenommen, nur noch jeden zweiten Abend gibt es ein wenig Schokolade. Meinert hat an dem Forschungsprojekt "Gesund leben in der Schwangerschaft" des KErn und der Technischen Universität München teilgenommen - einer Studie mit fast 2300 Teilnehmerinnen. In vier Beratungsgesprächen hat sie während und nach der Schwangerschaft unter anderem erfahren, wie sie ihren Sohn an feste Nahrung gewöhnen soll. "Hier ging es nicht allein um mich, sondern auch um mein Kind", sagt Meinert.
In einer Frauenarztpraxis in Fürth hat Alina Oehmke die Patientin beraten. Auf einer mit blauem Stoff überzogenen Liege hat die Arzthelferin Tafeln mit Fotos und Zeichnungen aufgestellt, auch Broschüren gab sie Caroline Meinert und anderen Müttern mit: "Wir erklären den Frauen, wie wichtig die Eltern als Vorbild für die Kinder sind." Daher isst Meinert seither viel frisches Gemüse, ihr 14 Monate alter Sohn ahmt sie eifrig nach, verspeist sogar Gewürzgurken. "Kinder messen ihre Eltern daran, was sie tun - und nicht daran, was sie sagen", sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen.
Oft verknüpfen Menschen auch bestimmte Nahrungsmittel mit starken Emotionen. "Woran erinnert euch die Minze?", fragt zum Beispiel Angela Dietz die Kinder im Sinnesparcours, als sie die Blätter zwischen den Fingern zerreiben. Das kann der Garten der Großmutter sein oder der Pfefferminztee zu Hause. Schon Marcel Proust beschrieb in seinem berühmten Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", wie Glücksgefühle den Ich-Erzähler überwältigen, als er einen Löffel mit dem aufgeweichten Stück einer Madeleine an seine Lippen führt. Seine Tante hatte ihn früher mit dem zarten Kuchen verwöhnt.
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Aber manchmal schmeckt auch ein Stück Sahnetorte fürchterlich, weil einem als Kind davon einmal übel geworden ist. "Das Gehirn speichert schlechte Erfahrungen langfristig ab", sagt Ellrott. Und es merkt sich auch, wenn ein Junge stets Kekse bekommt, sobald er im Supermarkt weint. Oder ein Stück Schokolade, damit er den Plausch der Erwachsenen nicht stört. "Dann gewöhnen sich die Kinder daran, aus Frust, Trauer oder Langeweile zu essen", sagt Ellrott.
Doch manche Kinder haben nicht einmal die Chance, einen differenzierten Geschmackssinn zu entwickeln. Übergewichtigen fällt es zum Beispiel schwerer als Schlanken, salzig und süß, bitter und den Geschmack nach Fleisch - Umami - wahrzunehmen. Sie brauchen mehr Salz und mehr Zucker, um ein Lebensmittel als salzig oder süß zu empfinden. "Oft haben die Kinder von klein auf viele Süßgetränke bekommen", sagt Susanna Wiegand, Leiterin des Adipositas-Zentrums der Charité in Berlin. Ein Apfel schmecke völlig anders - je nachdem, ob die Kleinen vorher ein Glas Wasser getrunken haben oder eine Limonade. "Wenn Kinder sehr viele Süßgetränke konsumieren, mögen sie oft kein Obst oder Gemüse", berichtet Wiegand.
In einer Reha-Klinik testete die Medizinerin, ob eine gesunde Ernährung das Geschmacksempfinden übergewichtiger Kinder und Jugendlicher verbessert. "Sie nahmen die Geschmacksrichtungen nach vier bis sechs Wochen besser wahr", berichtet Wiegand über die noch unveröffentlichten Studienergebnisse. Auch Übungen wie etwa ein Sinnesparcours können das Erleben der Kinder verstärken, noch im Alter von acht bis zehn Jahren, ergab eine Studie an französischen Schulkindern.
Darüber muss sich Nora keine Sorgen machen. Sie hat auch ein Stück Paprika mit verbundenen Augen erkannt. Die verspeist sie besonders gern, allerdings nur die roten Exemplare - Lebensmittel dieser Farbe nehmen Menschen als besonders süß wahr. "Das Auge isst mit", sagt Angela Dietz vom KErn. Nora hat gerade aus Gläsern mit rotem, mit grünem und mit gelbem Fruchtsaft probiert. "Den Roten mag ich am liebsten", ruft sie sofort. Dabei befindet sich in allen drei Gläsern derselbe Apfelsaft, nur unterschiedlich gefärbt. * Name geändert