Süddeutsche Zeitung

Essstörung:Wenn gesunde Ernährung zwanghaft wird

Seit 20 Jahren geistert die Essstörung "Orthorexia nervosa" durch die Presse. Doch ist bis heute umstritten, ob die Fixierung auf Quinoa-Samen und Spinat-Smoothies krankhaft ist.

Von Berit Uhlmann

Jordan Younger war tief in den Veganismus getaucht. Die Amerikanerin erlegte sich harte Restriktionen auf und verdiente als "blonde Veganerin" mit ihrem Blog Geld und Ruhm. Doch irgendwann wurden die Quinoa-Abendessen zu fad, die Smoothies blähten ihren Bauch auf, und ihr Gewicht schwand ebenso wie die Ideen, was sich aus den wenigen erlaubten Zutaten noch zubereiten ließe. Und so erklärte Younger unter großer Medienbeachtung, dass sie nicht weiter so streng essen könne, weil sie schwer an einer "Orthorexia nervosa" erkrankt sei.

Es war eine der prominentesten Erwähnungen jener Diagnose, die seit bald 20 Jahren durch Magazine und Netzwerke geistert. 1997 erfand der US-Mediziner Steven Bratman die griffige Formulierung. Er setzte "ortho", das griechische Wort für "korrekt", mit der Krankheitsbezeichnung Anorexia nervosa zusammen. Seine Argumentation: So wie der Anorektiker von der Quantität des Essens besessen sei, fixiere sich der Orthorektiker auf dessen Qualität. Und krank seien sowieso beide.

"Viele der unausgeglichensten Menschen, die ich je getroffen habe, waren die, die sich dem gesunden Essen verschrieben"

Das klingt durchaus einleuchtend. Nur hatte Bratmans Erstbeschreibung ebenso wenig wissenschaftliche Tiefe wie die Blogeinträge der blonden Veganerin. Der Alternativmediziner schilderte das Phänomen in der Publikumszeitschrift Yoga Journal, eingebettet in eine lange Erzählung über seine Zeiten als Koch in einer New Yorker Kommune, als er sich zwischen den unvereinbaren Essenstabus von Veganern, Hinduisten, Rohkostlern, Makrobiotikern sowie seinen eigenen Marotten aufrieb. "Viele der unausgeglichensten Menschen, die ich je getroffen habe, waren die, die sich dem gesunden Essen verschrieben. Ich glaube, dass einige von ihnen eine neue Essstörung haben", befand er. Zum Erfolg dieses Beitrags mag auch Bratmans offenherzige Klage beigetragen haben, dass Menschen mit kleinen Speiseplänen zu großen Überlegenheitsgefühlen neigen: "Ein Tag mit Sprossen, Umeboshi-Pflaumen und Amaranth-Keksen fühlt sich so gottgefällig an wie einer, der dem Dienst an Armen und Obdachlosen gewidmet ist."

Acht Jahre später bekam das Phänomen einen wissenschaftlichen Anstrich, als italienische Forscher im Fachjournal Eating and Weight Disorders einen Orhorexia-Test entwarfen. "Achten Sie beim Essen auf den Kaloriengehalt der Lebensmittel?", lautete eine Frage. "Sind Sie bereit, mehr Geld für gesünderes Essen auszugeben?" eine andere. Die römischen Forscher räumten ein, dass sie mit ihrer Frageliste keine krankhaften Züge erkennen könnten. Ihre Methode identifiziere lediglich Menschen mit großem Interesse an Ernährung. Dennoch wurde der Test in mehreren Ländern angewandt, wo er absurd hohe Betroffenenzahlen hervorbrachte. Zwischen 30 und 70 Prozent der Normalbevölkerung erhielten die Diagnose Orthorexia. Machten Ernährungsberater oder Studenten der Ernährungswissenschaften den Test, waren mehr als 80 Prozent betroffen.

Schokolade? Nur wenn es danach wieder Grünkohl gibt. Und eine Detox-Kur

Mit diesen fragwürdigen Ergebnissen ist quasi die gesamte Forschung zum Thema umrissen: 42 Fachartikel listet die Medizindatenbank Pubmed seit der Erstbeschreibung auf. Sehr viel unbekanntere Phänomene bringen deutlich mehr Artikel hervor: Der "Night Eating Disorder", einem Zwang zum nächtlichen Essen, sind 280 wissenschaftliche Aufsätze gewidmet. Der Muskelsucht, einer Fixierung auf den Muskelaufbau, mehr als 100 Studien. Selbst Orthorexia-Erfinder Bratman musste jüngst einräumen, dass es an wissenschaftlichen Erkenntnissen mangelt.

Ist die Orthorexia also eine Legende? Genüsslich weitergegeben von all jenen, die schon einmal von mäkeligen Gästen und missionarischen Müttern beschämt wurden? "Wir sehen durchaus das Phänomen der vermeintlich gesunden Ernährung um jeden Preis", sagt Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Meist fallen die Betroffenen auf, weil sie sehr dünn sind. Doch dann zeigt sich, dass das Untergewicht nicht ihr primäres Ziel, sondern eher ein Nebeneffekt ihrer vermeintlich gesunden Ernährung ist. "Damit kann man das Phänomen klar von der Anorexie abgrenzen", sagt die Spezialistin für Essstörungen. Die drastische Nahrungseinschränkung der Orthorexie-Betroffenen scheint eher ein Versuch zu sein, Krankheiten abzuwehren oder bereits durchgemachte Leiden zu kontrollieren. Andere versuchen, ihr Selbstwertgefühl mit den Restriktionen zu stabilieren.

Auch Martina de Zwaan hat bei den Betroffenen eine "ideologische Einengung" und einen Hang zum Missionieren beobachtet. Wenn die Orthorexia zu Problemen führt, dann meist im sozialen Bereich. Wer etwa in fröhlicher Runde Zusatzstoffe geißelt, provoziert Konflikte. Wer selbst am üppigsten Büffet nichts findet, das seinen Vorstellung von gesunder Ernährung entspricht, kann in die soziale Isolation geraten. Und doch sind die Kliniken nicht so voll von verzweifelten Paleo-Advokaten und Clean-Eating-Enthusiasten, wie die Berichterstattung über das Phänomen erwarten lässt. Dass Menschen schwer am eigenen Speiseplan leiden, scheint selten zu sein. Das könnte auch erklären, warum die Forschung so dürftig bleibt.

"Wir haben viele Fragezeichen, aber dennoch eindeutige Empfehlungen aus vielen Richtungen"

Dennoch hält auch Jürgen König, Ernährungswissenschaftler der Universität Wien, die Orthorexia für ein "relevantes Phänomen, auch wenn es den üblichen Kriterien für ein konkretes Krankheitsbild nicht entspricht". Er sieht zugleich die Ernährungswissenschaften in einer Mitverantwortung für die Entwicklung: Einerseits werde ständig propagiert, wie wichtig eine gesunde Ernährung ist. Auf der anderen Seite habe die Ernährungswissenschaft bis heute keine schlüssigen Studien für die optimale Ernährung vorgelegt. "Wir haben also viele Fragezeichen, aber dennoch eindeutige Empfehlungen aus vielen Richtungen, sodass der Druck für einen gesunden Lebensstil relativ groß ist. Dass dieser Druck zu krankheitsähnlichen Effekten führt, ist für mich sehr gut nachvollziehbar."

Die blonde Veganerin hat dem Druck zwischenzeitlich in eine andere Richtung nachgegeben. Sie wirbt nun als "Balanced Blonde" für ausgeglichene Ernährung. Auch Schokolade ist jetzt kein Problem mehr. Schließlich kann man ja am nächsten Tag zum Grünkohl-Salat zurückkehren - oder eine der fünftägigen Detox-Kuren über den Blog der Blondine bestellen.

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Quelle:
SZ vom 12.10.2016/fehu
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