Ernährung:Vier Hilfen gegen Übergewicht

Bananas, apples, mangoes, strawberries, pineapples and other fruits are on display for sale at a market in Lima

Ein Lösungsansatz gegen Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht: Obst und Gemüse geringer besteuern

(Foto: REUTERS)

Mehr Obst in Kitas, hohe Steuern auf ungesunde Produkte: Es gäbe wirksame Maßnahmen, um den Anstieg von Fettleibigkeit in Deutschland zu bremsen. Aber niemand ergreift sie.

Gastbeitrag von Dietrich Garlichs

Deutschland steht, was die Gesundheit seiner Bürger betrifft, vor einer Jahrhundertaufgabe: Bereits heute ist mehr als die Hälfte der Deutschen übergewichtig, jeder vierte erfüllt die Kriterien für eine krankhafte Fettleibigkeit, medizinisch Adipositas. Tendenz steigend.

Dabei geht es nicht um das Aussehen. Starkes Übergewicht ist ein Risikofaktor für viele ernsthafte Krankheiten: Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, viele Krebsarten. Mindestens drei Viertel der vorzeitigen Todesfälle sind inzwischen durch den Lebensstil verursacht, durch falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Übergewicht und seine Folgen bedeuten oft immenses Leid für die Betroffenen - und erhebliche Kosten für die Gesellschaft. 35 Milliarden Euro gibt die Solidargemeinschaft jährlich allein für die Folgen des Diabetes, für Krankengeld und Frührenten aus. Überernährung, stellte kürzlich die Fachzeitschrift Lancet fest, hat das uralte Menschheitsproblem Hunger als größtes Krankheitsrisiko abgelöst.

Zum Autor

Dietrich Garlichs, 69, war von 2010 bis 2017 Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft und ist Sprecher der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten.

Es muss etwas passieren - so weit sind sich alle einig. Aber was? Die Politik setzte bisher vor allem auf die Verantwortung des Einzelnen. Durch Aufklärung sollen die Betroffenen lernen, gesünder zu essen und sich mehr zu bewegen. Doch dieser individualistische Ansatz gilt aus wissenschaftlicher Sicht längst als gescheitert. Denn unzählige Studien zeigen: Die große Mehrheit der Patienten nimmt dadurch nur wenig ab und nach Ende der Schulung schnell wieder zu.

Notwendig sind dauerhafte Maßnahmen, die möglichst die ganze Bevölkerung erreichen und belegbar das Ernährungsverhalten positiv verändern. Das Präventionsgesetz von 2015 wäre eine Chance gewesen. Doch gefördert werden wiederum vor allem Gesundheitskurse und zeitlich begrenzte Projekte. Ärzte sollen ihre Patienten zur Vorbeugung anhalten. Wieder ist es der Bürger, der etwas verändern soll. Die Politik aber nimmt ihre Rolle nicht an.

Warum fällt es dem Einzelnen, vor allem, wenn er sozial schwach ist, so schwer, weniger Zucker, Fett und andere ungesunde Zutaten zu sich zu nehmen? Weil es ihm schwergemacht wird. Wer weiß schon, dass 75 Prozent aller Lebensmittelprodukte Zucker enthalten? Wer hat im Supermarkt Zeit, das Kleingedruckte zu studieren und Portionsangaben umzurechnen? Und selbst wenn er die Zeit hätte - die Hersteller verstecken Zucker in den Zutatenlisten hinter 50 verschiedenen Begriffen. Hinzu kommt eine massive Werbung für ungesunde Produkte, auch und gerade für Kinder. Auch der Preis spielt eine Rolle - für Zucker und Fett gilt nach wie vor der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent. Die Lebensmittelampel hätte für mehr Klarheit sorgen können - doch die Politik hat sie nicht zustande gebracht. Eine Milliarde Euro soll die Lebensmittelindustrie dafür in ihre Lobbyarbeit investiert haben.

Gesund leben muss für die Verbraucher einfacher werden

Langsam merken die Verantwortlichen, dass Appelle an den Einzelnen ohne Änderungen im System wirkungslos sind. Der Bundeslandwirtschaftsminister hat eine "Strategie zur Reduktion von Zucker, Fetten und Salz" angekündigt. Doch die wird der Dringlichkeit des Problems nicht gerecht. Erst einmal will man herausfinden, wie viel die Menschen davon essen. Dann sollen Reduktionsziele erarbeitet werden, zusammen mit der Industrie. Dabei ist längst klar, wie die Ziele aussehen sollten: Mehr als 25 Gramm Zucker (oder fünf Prozent der Kalorien) pro Tag sind laut WHO problematisch. Grundlage für diese Empfehlung sind 9000 Studien zum Zusammenhang von Zucker und Übergewicht. Doch die Zuckerindustrie hält den Grenzwert für nicht ausreichend belegt, das Ministerium auch nicht.

Wenn wir die dramatische Zunahme von Übergewicht, Diabetes und anderen Krankheiten noch aufhalten wollen, muss die Politik schnell durchgreifen, ohne Rücksicht auf die Industrie. Das ist keine Idee irgendwelcher Gesundheitsapostel, sondern die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation: "Make the healthy choice the easier choice". Gesundes Verhalten soll leicht gemacht werden. Für Deutschland hat eine Allianz von über 20 wissenschaftlichen Organisationen vier Maßnahmen identifiziert, die geeignet sind, die Adipositas-Welle zu stoppen:

Erstens eine nach Gesundheitsaspekten gestaffelte Mehrwertsteuer für Lebensmittel: Obst und Gemüse werden gering oder gar nicht besteuert, normale Lebensmittel mit sieben Prozent, Ungesundes mit 19 Prozent, extrem Ungesundes wie Softdrinks eventuell noch mehr. Viele Länder haben bereits solche gestaffelten Steuern, und sie haben gute Erfahrungen damit gemacht. So ist in Kalifornien der Absatz von Softdrinks nach Einführung einer speziellen Steuer um 21 Prozent zurückgegangen. Die differenzierte Steuer hätte noch einen anderen Effekt: Die Hersteller würden höchstwahrscheinlich die Rezepturen für Fertigprodukte anpassen und Fett und Zucker reduzieren. Auch dies zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern. Die Verbraucher bekämen bessere Produkte zum selben Preis.

Zu viel Fleisch in Kitas, zu wenig Obst und Rohkost

Zweitens ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel: Freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie haben sich hier als wirkungslos erwiesen. 90 Prozent der beworbenen Kinderlebensmittel sind nach WHO-Kriterien gesundheitsschädlich. Kinder erkennen aber häufig Werbung nicht einmal als solche. Studien belegen: Je mehr Werbung Kinder sehen, desto höher ist ihr Risiko, übergewichtig zu werden.

Drittens verbindliche Standards für die Schulverpflegung: 2007 hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums Qualitätsstandards für Schulernährung herausgegeben. Bis heute sind diese nur im Saarland und in Berlin verbindlich. Nach einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung wird bundesweit in 75 Prozent der Kitas zu viel Fleisch angeboten, aber nur in zwölf Prozent ausreichend Obst, nur in 19 Prozent genügend Rohkost.

Viertens: Täglich mindestens eine Stunde Bewegung in Kita und Schule: Schon 60 bis 90 Minuten moderate Aktivität steigern den Energieverbrauch um zehn Prozent und beeinflussen das körperliche und seelische Wohlbefinden von Kindern positiv.

In Sachen gesundheitliche Prävention ist Deutschland immer noch ein Entwicklungsland. Das drückt sich auch in einer dramatischen Kluft der Lebenserwartung zwischen den sozialen Schichten aus. Die oberen 20 Prozent der Bevölkerung leben im Mittel zehn Jahre länger als die unteren 20 Prozent. Wer hier allein auf den Appell an die Verantwortung des Einzelnen baut, verkennt die Ursachen oder ist zynisch.

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