Wer auf die Bilanz der scheidenden Bundesregierung schaut, wird eines nicht entdecken: den großen Wurf in Sachen Ernährungsförderung. Die Regierung brachte zwar eine Strategie zur Reduzierung von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten auf den Weg, doch sind deren Inhalte für die Industrie nicht verpflichtend. Sie führte nach längerem Zögern den Nutri-Score ein, doch auch diese Nährwert-Kennzeichnung ist lediglich ein freiwilliges Instrument. Dazu gab es, wie immer, etwas Aufklärung.
Wie viel jedoch darüber hinaus möglich wäre, und wie weit Deutschland hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, zeigen nun Public-Health-Wissenschaftler in einer neuen Analyse. Ein Team um Peter von Philipsborn und Karin Geffert von der Münchner LMU haben für die noch nicht in einem Fachjournal begutachtete Studie Hunderte Dokumente gesichtet und zusätzlich 55 externe Experten um ihre Einschätzung gebeten: Wie gut ist Deutschlands Ernährungspolitik?
Ihr Maßstab ist der international gebräuchliche Food Environment Policy Index. Er listet insgesamt 47 Maßnahmen zur Ernährungsförderung auf; sie reichen von der Bereitstellung von Forschungsgeldern bis zu Qualitätsstandards für Betriebskantinen. Die Analyse ergab, dass in Deutschland keine einzige dieser Möglichkeiten umfassend ergriffen wurde. Acht der Interventionen bewerteten die Experten als mittelmäßig gut umgesetzt. Es sind überwiegend jene, die im Alltag der Menschen wenig konkrete Hilfe bieten, etwa die Erhebung von Gesundheitsdaten oder die Ausarbeitung von Ernährungsleitlinien.
Besseres Schulessen hat oberste Priorität
Alle übrigen Maßnahmen wurden allenfalls auf niedrigem Niveau eingeführt. Dabei zögert Deutschland besonders bei Interventionen, die Industrieinteressen berühren: Eingriffe in Werbung und Marketing gehören dazu, die höhere Besteuerung von ungesunden Lebensmitteln, Vorgaben für den Einzelhandel, zu denen beispielsweise das Verbot von ungesunder Quengelware an den Kassen gehört.
Covid-19:Das vermeidbare Risiko
Nicht nur das Alter steigert die Gefahr, schwer an Covid-19 zu erkranken. Auch Leiden wie Adipositas, Diabetes und Bluthochdruck können den Verlauf dramatisch verschlimmern. Doch gegen sie wird wenig unternommen.
"In vielen Bereichen besteht erheblicher Nachholbedarf", sagt Peter von Philipsborn und verweist darauf, dass der Index bereits auf etwa 40 Länder angewandt wurde. Im Vergleich zu ihnen liege Deutschland eher im unteren Mittelfeld.
Die Autorinnen und Autoren haben zugleich eine Art Ranking konkreter Maßnahmen erstellt: Welche haben den größten Effekt, sind zugleich gut durchsetzbar - und sollten daher vorrangig angegangen werden? Ganz oben auf der Liste steht ein besseres Schul- und Kitaessen. Es gibt bereits seit Jahren Qualitätsstandards für die Verpflegung der jüngsten Generation; mehr oder weniger verpflichtend sind sie aber nur in einer Handvoll Bundesländern. Sie müssten nun endlich überall verbindlich werden, fordern die Autoren.
Für besonders empfehlenswert halten sie zudem steuerliche Regulierungen. In Australien beispielsweise sind Obst und Gemüse von der Mehrwertsteuer befreit, ähnliches sei auch für Deutschland zu wünschen. Im Gegenzug sollten Mehrwertsteuervergünstigungen für ungesunde Produkte ausgesetzt werden.
Kinder sehen täglich 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel
Zudem schlagen die Studienautoren eine Herstellerabgabe auf Süßgetränke nach dem britischen Vorbild vor, die sich nach dem Zuckergehalt bemisst. "Bei kaum einem Lebensmittel gibt es einen stärkeren Zusammenhang zum Übergewicht und zu nicht übertragbaren Krankheiten wie bei den Süßgetränken", sagt Diana Rubin, leitende Ernährungsmedizinerin an mehreren Vivantes-Kliniken in Berlin. Die Mischung der enthaltenen Zuckerarten und die hohe Kalorienzahl, die aber nicht zur Sättigung führt, wirkten sich besonders ungünstig auf die Gesundheit aus.
Weiterhin plädieren die Forscherinnen und Forscher, Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richtet, gesetzlich zu regulieren. "Kinder sehen in Deutschland jeden Tag im Durchschnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel, davon zehn im Fernsehen und fünf im Internet. Hieran haben auch freiwillige Selbstverpflichtungen der Lebensmittel- und Werbeindustrie nichts geändert", betont Barbara Bitzer, Sprecherin des Wissenschaftsbündnisses Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten.
Die Mitautorin der aktuellen Analyse, Antje Hebestreit vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen, verweist besonders auf die sozialen Medien. Die Mehrheit der dort auf Kinder abzielenden Werbung preist Snacks und Süßgetränke an - "also genau jene Lebensmittel, die für das kindliche Übergewicht stark mitverantwortlich sind". Kinder aber haben es besonders schwer, überzählige Pfunde wieder zu verlieren. "Sie nehmen die Last mit ins Erwachsenenalter", so die Ernährungswissenschaftlerin.
Diese Vorhaben auch durchzusetzen, dürfte nicht einfach sein, räumen die Autoren ein. An der Bevölkerung allerdings würden sie wahrscheinlich nicht scheitern. Zwischen 63 und 94 Prozent der Deutschen haben sich verschiedenen Erhebungen zufolge für diese Maßnahmen ausgesprochen.
Peter von Philipsborn appelliert daher an die künftige Bundesregierung, das Thema ernster zu nehmen. "SPD, Grüne und FDP haben in ihren Wahlprogrammen versprochen, mehr für die Förderung einer ausgewogenen Ernährung zu tun, insbesondere unter Kindern. Jetzt ist es an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen."