Ausbreitung von Pandemien:Wie ein Steinwurf in die Pfütze

Ausbreitung von Pandemien: Jedes Jahr reisen etwa drei Milliarden Fluggäste um die Welt, mit ihnen Viren und Bakterien: Hier ein Ausbreitungsmodell von Krankheitserregern über Flugverbindungen.

Jedes Jahr reisen etwa drei Milliarden Fluggäste um die Welt, mit ihnen Viren und Bakterien: Hier ein Ausbreitungsmodell von Krankheitserregern über Flugverbindungen.

Sars, Vogelgrippe, Ehec - wie breiten sich Pandemien aus? Weltkarten, die den Erdball auf Flugrouten reduzieren, sollen helfen, Infektionskrankheiten besser vorherzusagen. Zentraler Keimverteiler: der Flughafen.

Von Andrea Hoferichter

Auf dem Computerbildschirm von Dirk Brockmann sieht die Welt aus wie eine explodierende Silvesterrakete am Nachthimmel. Peking leuchtet als Punkt in der Mitte, drum herum liegen unter anderem Bangkok, Paris, Frankfurt und Chicago. Ländergrenzen, Ozeane und Gebirge sucht man auf dieser Karte vergebens.

Dabei hat der Physikprofessor von der Humboldt-Universität in Berlin keine Geografieschwäche, sondern einfach eine besondere Idee. "Wir haben eine Karte der effektiven Entfernungen entwickelt, auf der nicht die geografische Lage den Abstand zweier Orte bestimmt, sondern wie gut diese verkehrstechnisch verbunden sind", sagt er.

Mit dieser Karte lässt sich die Ausbreitung von Pandemien besser verstehen und simulieren als bisher, wie der Forscher am heutigen Freitag gemeinsam mit Dirk Helbig von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich im Wissenschaftsmagazin Science (Bd. 342, S. 1337, 2013) berichtet. Krankheiten breiten sich darauf ringförmig nach außen aus und sind so vorhersagbar wie Wellen in einer Pfütze, in die man einen Stein geworfen hat.

Die Forscher können berechnen, wann der Erreger in weiteren Regionen ankommen dürfte. Auch der Ursprungsort einer Pandemie lässt sich anhand dieser Darstellungen ermitteln. "Für die Lungenkrankheit Sars, Vogelgrippe und die Darmentzündungen, die durch den Ehec-Erreger ausgelöst wurden, konnten wir schon zeigen, dass das Modell funktioniert", sagt Brockmann.

Der Flughafen als Dreh- Angelpunkt

Mit der einfachen Idee konnte der Physiker ein komplexes Phänomen bändigen. Immerhin reisen jedes Jahr etwa drei Milliarden Fluggäste auf 20 000 Routen um die Welt, und mit ihnen Viren und Bakterien. "Wir leben nicht mehr zu Zeiten der Pest, die sich linear ausgebreitet hat, weil sie sozusagen zu Fuß von Dorf zu Dorf getragen wurde", betont der Forscher.

Dass Flughäfen die Dreh- und Angelpunkte für die weltweite Verbreitung von Sars waren, hat er schon vor gut zehn Jahren herausgefunden. Heute ist klar, dass dies auch für andere Pandemien gilt. Doch als der Physiker die Ausbreitung der Krankheiten auf einer gewöhnlichen Weltkarte simulierte, flackerten die gemeldeten Krankheitsfälle scheinbar ohne System, wie Irrlichter, über den Bildschirm.

"Der Trick ist, dass sich nur dann ein gleichmäßiges kreisförmiges Muster ergibt, wenn der Ursprungsort in der Mitte der Karte ist", erklärt Brockmann. "Man nimmt einfach eine Art Schnappschuss, wo die Epidemie gerade ist, und probiert dann alle Flughafen-Kandidaten durch."

Beim Flughafen, der als Kartenzentrum zu einem besonders gleichförmigen Kreismuster führt, liegt aller Wahrscheinlichkeit auch der zentrale Keimverteiler. Weil das aber nicht immer mit bloßem Auge zu erkennen ist, haben die Forscher ein Maß für die runde Gleichförmigkeit entwickelt, das sich in Zahlen ausdrücken lässt.

Die Idee für die neue Karte kam Brockmann bei einer seiner Reisen von seinem ehemaligen Arbeitsort, der Northwestern University in Evanston bei Chicago, nach Deutschland. "Nach Taxifahrt und oft mehreren Inlandsflügen war der Transatlantikflug der kleinste Teil der Reise, obwohl damit die meisten Kilometer zurückgelegt wurden", erzählt er. Und so läge Frankfurt auf der neuen Karte deutlich näher an New York als das nicht einmal 1500 Kilometer Luftlinie entfernte Evanston.

Allerdings sind Brockmanns Illustrationen bislang vereinfachte Modelle. Sie enthalten weder jeden Regionalflughafen noch alle möglichen Flüge: Querverbindungen zwischen den Außenästen gibt es darum nicht.

Aufklärung am Knotenpunkt

Das neue Modell des Physikers ist nicht der einzige Ansatz, der die Ausbreitung von Krankheiten über Flugnetzwerke simuliert. Es gebe auch andere Werkzeuge, die recht erfolgreich die Geschwindigkeit erklären können, mit der sich eine Krankheit auf der Welt ausbreitet, berichtet die Epidemiologin Angela McLean von der Oxford University.

"In der Regel sind das aber große und komplexe Computersimulationen. Brockmanns Arbeit ist elegant, weil sie zeigt, welche Teile der komplexen Reisenetzwerke für Vorhersagen wirklich wichtig sind" sagt sie. So kann man erkennen, wo der Ursprung einer Pandemie liegt und was als nächstes passiert.

"Für uns ist es ganz wichtig zu wissen, wann und wo eine Infektionswelle aus anderen Regionen bei uns ankommt, um gut vorbereitet zu sein", sagt auch Lars Schaade, Vizepräsident des für Seuchen zuständigen Robert-Koch-Instituts. Außerdem könnte man im Prinzip an Knotenpunkten besonders intensiv über mögliche Frühsymptome aufklären, gezielte Warnungen herausgeben oder Passagiere mit zuverlässigen Schnelltests screenen. "Allerdings sind noch keine Tests verfügbar, die schon in der frühesten Phase einer Infektion ausreichend schnell, einfach und zuverlässig genug arbeiten", räumt er ein.

Versuche, an Einreiseterminals infizierte Passagiere durch Fiebermessen auszumachen, verliefen bisher weitgehend erfolglos, auch weil das Fieber in der Regel erst ein paar Tage nach der Infektion einsetzt. Ganze Flugverbindungen zu streichen, so Schaade, sei eine "sehr drastische Maßnahme, die nicht nur erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, sondern auch verhindern kann, dass Hilfe an den Bestimmungsort kommt".

Im Ernstfall sind zurzeit weder Brockmanns noch andere Modelle zu Flugnetzwerken alleinige Entscheidungsgrundlage der Krisenmanager. Gerechnet wird vor allem mit klassischen Modellen, die Bevölkerungsgruppen simulieren, in denen jeder mit jedem Kontakt hat. Diese Ansätze berücksichtigen außerdem Eigenschaften der Erreger, etwa wie schnell sich die Keime ausbreiten, wie leicht sie übertragbar sind und wie lange es von der Ansteckung bis zu ersten Symptomen dauert.

Die digitale Welt als Informationsquelle

Mit diesen Daten lässt sich simulieren, was passiert, wenn Kontakte unterbunden oder einzelne Personengruppen geimpft werden. Abschätzen lässt sich so auch, wann wie viele Personen erkranken - eine wichtige Information für Krankenhäuser.

Eine handfeste Prognose ist das alles aber nicht. "Das sind eher Schätzungen, ähnlich aussagekräftig wie eine Wettervorhersage", räumt Schaade ein. Doch künftig könnten diese Schätzungen durchaus genauer werden, auch dank der neuen Modelle. "Interessant wäre es, Brockmanns Ansatz auf kleinere Regionen, Länder- oder sogar Landkreisebene herunterzubrechen", sagt Schaade. Die hier zugrunde liegenden Netzwerke müssen dafür allerdings noch erforscht werden - im Fall von Tröpfcheninfektionen ist das vor allem der Personenverkehr und bei Krankheiten, die über Lebensmittel übertragen werden, der Lieferverkehr.

Neu ist auch der Trend, die digitale Welt als Informationsquelle zu nutzen. Der Internetdienst Google-Flu-Trends beruht zum Beispiel auf der Annahme, dass jemand, der das Internet nach "Grippe" oder ihren Symptome durchsucht, sie mit einiger Wahrscheinlichkeit selbst hat. Oder dass er für ein Mitglied der Familie recherchiert. Vor Kurzem meldete schon eine Forschergruppe aus New York, sie habe mit diesem Werkzeug den Höhepunkt der regionalen Grippewelle in 108 amerikanischen Städten mit einer Vorlaufzeit von zwei bis vier Wochen vorhersagen können.

Gleich mehrere Forscherteams weltweit wollen außerdem Blogs, Webseiten und soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook nutzen, um Epidemien rechtzeitig zu erkennen. "Mit fast sieben Milliarden Mobiltelefonen und fast drei Milliarden Menschen online wird es immer schwerer für Mikroorganismen, sich unbemerkt auszubreiten", schreiben Wissenschaftler der amerikanischen Penn State University in einer Pressemitteilung.

Die digitalen Medien könnten auch helfen, einen anderen Unsicherheitsfaktor von Pandemieprognosen in den Griff zu bekommen. Die Vorhersagen beruhen auf Daten, die für den Normalzustand gelten. Doch die Nachrichten von einer Pandemie könnten das Verhalten der Menschen ändern: Wenn diese zum Beispiel in den Nachrichten hören, dass eine gefährliche, ansteckende Krankheit droht, sagen sie möglicherweise die eine oder andere geplante Reise ab - und verbreiten es online.

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