Erbgutforschung:Die Hunger-Gene von Leningrad

Lesezeit: 3 min

Einwohner Leningrads während der Belagerung durch deutsche und finnische Truppen im Winter 1941/42. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

872 Tage lang hungerten die Eingekesselten. Dennoch überlebten Hunderttausende die Belagerung Leningrads. Warum sie? Forscher haben Antworten in ihren Genen gefunden.

Von Julia Smirnowa und Angelina Dawidowa

Im September 1941 fing die Belagerung Leningrads an. Drei Millionen Menschen wurden von den Truppen der deutschen Wehrmacht und des Alliierten Finnland in der Stadt an der Newa eingeschlossen, die heute wieder Sankt Petersburg heißt. Schon im ersten Winter wurde das Essen extrem knapp, die Menschen starben zu Tausenden. Im Mittel aßen die Eingeschlossenen am Ende des Jahres 1941 nur 125 Gramm Stärke pro Tag: keine 200 Kilokalorien, die zum Teil auch aus Kiefernrinde, Birkenknospen und dem Presskuchen von Leinsamen stammten.

Leningrad-Belagerung 1941-1944
:Als die Menschen auf der Straße starben

Außen saßen die deutschen Soldaten, innen krepierten die russischen Zivilisten: Bilder von der Blockade von Leningrad, bei der im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende umkamen.

Als die Belagerung nach 872 Tagen im Januar 1944 endete, waren 1,1 Millionen Menschen verhungert. Es war eines der größten Kriegsverbrechen der Wehrmacht.

Aber Hunderttausende Menschen kamen damals mit dem Leben davon. Russische Forscher sind inzwischen einer genetischen Veranlagung auf der Spur, die ihnen geholfen haben könnte. Die Überlebenden hatten häufiger als andere Menschen drei Varianten von Erbanlagen, die dem Körper bei Mangelernährung einen effizienteren Stoffwechsel ermöglichen. Oleg Glotow und seine Kollegen vom Ott-Forschungsinstitut haben in den vergangenen sechs Jahren 206 der Überlebenden aufgespürt und um Proben gebeten.

Die Studie, die in einer russischen Fachzeitschrift über Gerontologie veröffentlicht wurde, sei "faszinierend und provokativ", sagt Stephen O'Brien von Dobzhansky-Zentrum für Genom-Bioinformatik in Sankt Petersburg.

Auch Bertie Lumey von der Columbia University in New York nennt die Untersuchung "extrem interessant". Der Forscher, der aus dem Niederlanden stammt, hat die Überlebenden des Hungerwinters 1944/45 untersucht, den sein Heimatland unter der Besatzung durch Nazi-Deutschland erlitt. Allerdings warnt er vor voreiligen Schlüssen: Glotows Gruppe von Testpersonen sei klein; dies erschwere die Interpretation der Ergebnisse.

Glotow räumt ein, dass seine Studie in den Anfängen steckt. Sein Team untersuche daher weitere Probanden und verbessere die Analyse. Die Arbeit soll weitergehen, auch wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind. Eine Biobank, die der Forscher mit seinem Zwillingsbruder Andrei gründet, soll Speichel- und Blutproben der Teilnehmer verwahren.

Mehr als 70 Jahre nach der Belagerung bleiben die Ereignisse im Krieg ein schwieriges Thema in Sankt Petersburg. Die Frage zu stellen, ob sich die Stadt hätte ergeben sollen, um Zivilisten zu retten, ist tabu. Offiziell stehen Leiden und Heldentum im Zentrum des Gedenkens. Weil diese Erinnerungen "heilig sind", sagt Glotow, "sind genauere Untersuchungen und alternative Deutungen nicht möglich". Kollegen hätten ihm seine Studie gar ausreden wollen.

Er ließ sich aber nicht beirren, auch weil die Belagerung zu seiner Familiengeschichte gehört. Seine Großmutter gehörte zu den 840 000 Menschen, die aus Leningrad fliehen konnten - meist in Lastwagen nach Osten über den zugefrorenen Ladogasee.

Wer die Belagerung überlebt hatte, dem ging es oft auch nach dem Krieg nicht besonders gut. 29 Prozent der Befreiten entwickelten später Diabetes, verglichen mit drei bis vier Prozent der Gesamtbevölkerung, sagt Lydia Koroschinina von der Metschnikow-Universität in Sankt Petersburg. Diese 2002 veröffentlichten Zahlen passen zu den Daten aus anderen Hungersnöten.

Glotows Erkenntnisse deuten nun darauf hin, dass beides zusammenhängen könnte: dass die gesundheitlichen Probleme nach dem Krieg die Kehrseite jenes genetischen Vorteils sind, mit dem man Mangelernährung länger übersteht. Sein Team hat fünf Gene untersucht, welche die Verdauung von Fett und Zucker steuern. Ein Vergleich mit 139 ähnlich alten Bürgern Sankt Petersburgs, welche die Belagerung nicht überlebt hatten, zeigte: Unter den Überlebenden waren drei der Gene ungefähr um 30 Prozent häufiger als Variante ausgebildet, die einen sparsameren Stoffwechsel bedingt.

Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg
:Als die Menschen Leim und Ratten aßen

Etwa 900 Tage ließ Adolf Hitler das heutige St. Petersburg im Zweiten Weltkrieg belagern. In der Stadt spielten sich grauenhafte Szenen ab.

Von Oliver Das Gupta

Diese Unterschiede seien "nicht wirklich überwältigend", sagt Stephen O'Brien. "Das ist eher ein Hinweis." Auch Glotow räumt ein, dass niemand sagen kann, wie viel Essen die Überlebenden während der Belagerung wirklich bekommen haben. Vielleicht hatten sie Beziehungen und konnten ihre Rationen aufstocken. Immerhin versucht der russische Forscher, seine Analyse reproduzierbar zu machen. Die Proben in der Biobank können später zum Prüfen der Resultate und mit anderen Fragestellungen neu untersucht werden. Möglichst viele Überlebende sollen Material dafür spenden. Unter den noch lebenden Probanden ist demnächst auch die 90-jährige Großmutter von Glotows Frau, die die Belagerung von Leningrad überlebt hat.

Dieser Artikel ist im Original in Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Weit. Infor.: www.aaas. org, www.sciencemag.org. Dt. Bearbeitung: cris

© SZ vom 10.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: