Einschnitte bei der Palliativmedizin:Leben und sterben lassen

Eigentlich sollten alle angehenden Ärzte von 2013 an lernen, wie man Menschen in Würde sterben lässt. Doch nun berät der Gesundheitsausschuss des Bundesrats über einen Vorschlag aus dem Gesundheitsministerium, der die Ausbildungspläne erheblich ins Wanken bringen könnte. An dieser Entwicklung ist auch die Pharmaindustrie nicht ganz unbeteiligt.

Christina Berndt

Es ist noch gar nicht lange her, da lebten alle jene auf, die sich in Deutschland für ein gutes Sterben einsetzen: Nach jahrelangem Bemühen wurde die Palliativmedizin im Sommer 2009 zum Pflichtfach für Medizinstudenten. Eindringlich hatte zuvor einer der ersten deutschen Professoren für Palliativmedizin, Gian Domenico Borasio, an den Rechtsausschuss des Bundestages appelliert: "Lassen Sie es nicht weiter zu, dass über 90 Prozent der Medizinstudenten ihre Approbation bekommen, ohne die geringste Ahnung von Palliativmedizin zu haben." Sonst würden die Abgeordneten kurz vor ihrem Tod selbst wahrscheinlich an einen Arzt geraten, der von Sterbebegleitung nichts wüsste.

Daheim sterben oder im Hospiz? Wille des Patienten entscheidet

Ärtze müssen lernen, einen Patienten sterben zu lassen. Das fällt vielen von ihnen schwer.

(Foto: dpa)

Der Appell überzeugte offenbar: Alle Universitäten müssen von 2013 an, so entschieden die Abgeordneten, angehende Ärzte lehren, wie man Menschen am Ende ihres Lebens am besten behandelt - ihre körperlichen Bedürfnisse betreffend, aber auch ihre psychologischen, sozialen und spirituellen.

Doch nun droht der Erfolg nach Ansicht von Palliativmedizinern verloren zu gehen, noch bevor er sich einstellt. Erneut steht eine Änderung der Approbationsordnung für Ärzte an. Am heutigen Mittwoch entscheidet der Gesundheitsausschuss des Bundesrats über einen Vorschlag aus dem Gesundheitsministerium. Demnach soll der Bereich der Palliativmedizin künftig "Palliativ- und Schmerzmedizin" heißen. Beide Fächer müssten sich also nicht nur den Platz im Stundenplan teilen, sie würden auch miteinander verwoben.

"Liebevolles Unterlassen" lernen

Sollte der Bundesrat zustimmenwäre das für die Palliativmedizin ein schmerzhafter Moment. "Die Änderung würde großen gesundheitspolitischen wie medizinischen Schaden bedeuten", sagt Borasio, der inzwischen an der Universität Lausanne lehrt. An den allermeisten Universitäten würde die Unterrichtszeit im Fach Palliativmedizin mindestens halbiert. Außerdem würden Palliativ- und Schmerzmedizin schon heute allzu oft gleichgesetzt, als gehe es am Lebensende nur darum, Schmerzen zu lindern. Dies sei zwar eine wichtige Aufgabe in der Sterbebegleitung, "sie macht aber nur etwa 15 Prozent aus", betont Borasio.

Zahlreiche Akteure setzen sich daher für die Trennung der beiden Fächer ein. "Wir begrüßen, dass die Schmerzmedizin in die Approbationsordnung aufgenommen werden soll. Aber wir plädieren dafür, dies in einem eigenen Bereich zu tun", sagt die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (DHPV), Birgit Weihrauch. Sonst würde man keiner der beiden Disziplinen gerecht. Für die Palliativbehandlung müssten Ärzte eine neue Haltung gegenüber dem Patienten erlernen, die Borasio "liebevolles Unterlassen" nennt. Dass etwa eine Magensonde hochbetagte Demenzpatienten zwar ungewollt, aber aktiv am friedlichen Sterben hindert, könne nicht oft genug betont werden.

Ärzte müssen lernen, eben nicht mehr alles zu tun, was medizinisch möglich ist", sagt Weihrauch. "Sie müssen einen Menschen sterben lassen können. Das fällt vielen Ärzten schwer." Oft stünden sich die Lehrinhalte von Palliativ- und Schmerzmedizin sogar diametral gegenüber, warnt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. So bräuchten Patienten mit chronischen Rücken- oder Kopfschmerzen im Gegensatz zu Sterbenden die "Botschaft, dass das Leben auch mit Schmerzen weitergeht" und dass Medikamente "nicht immer hilfreich, ja sogar kontraproduktiv sein können". In einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung fordert auch die Bundesärztekammer, beide Fächer zu trennen.

Nicht mehr als zur Hälfte gehe es in der Palliativbetreuung um die Kontrolle körperlicher Symptome, sagt Borasio. "Und dabei geht es wiederum nur zu etwa einem Drittel um Schmerzen." Das zweite Drittel machen neuropsychiatrische Symptome wie Delir, Verwirrtheit und Depression aus. Und schließlich leiden viele Sterbende unter internistischen Beschwerden wie Übelkeit, Mundtrockenheit, Verstopfung oder Atemnot. "Atemnot kann viel schlimmer sein als Schmerz", betont Borasio, sie könne existenzielle Angst auslösen.

Die mächtige Lobby der Schmerztherapeuten

Die andere Hälfte der Aufgaben in der Palliativbetreuung sind spiritueller und psychosozialer Natur. Bei einer Verquickung mit der Schmerzmedizin fielen wahrscheinlich vor allem diese Aspekte weg, befürchtet Borasio. Schmerzen seien bei Sterbenden nicht so häufig wie allgemein angenommen. Sie zu behandeln habe natürlich hohe Priorität. Aber danach fange die Arbeit erst richtig an, sagt Borasio und zitiert einen indianischen Häuptling: "Das Leiden beginnt, wo der Schmerz aufhört." Fragen nach dem Warum und dem Sinn des Lebens kommen auf. Auch sei es wichtig, das Umfeld des Patienten mitzubetreuen. "Die Familie ist dem Sterbenden häufig wichtiger als er selbst", sagt die DHPV-Vorstandsvorsitzende Weihrauch. "Und zugleich gerät die Familie gerade bei jüngeren Sterbenden oft völlig aus den Fugen." Wer die Angehörigen unterstütze, helfe damit direkt dem Patienten.

Dass Menschen Sterben und Schmerzen so stark miteinander verbinden, ist in Borasios Augen auch das Ergebnis intensiver Propaganda. "Die Lobby der Schmerztherapeuten ist mächtig", sagt er. Mit Unterstützung der Pharmaindustrie hätten vor allem Anästhesisten die Gleichung "Palliativmedizin ist gleich Schmerztherapie" in den Köpfen zementiert. Die Industrie verdiene nun einmal nichts an spiritueller Begleitung. Seit Jahren schon versuche die Anästhesie das Fach Palliativmedizin als Unterabteilung der Schmerztherapie zu definieren, so Borasio. Die geplante Änderung der Approbationsordnung sei ein wesentlicher Schritt in diese Richtung.

Die Problematik, dass Schmerz- und Palliativmedizin trotz ihrer relativ geringen Überschneidung häufig gleichgesetzt werden, lässt sich mit der Schaffung eines eigenen Bereichs in der Approbationsordnung aber nicht aus der Welt schaffen", gibt Wolfgang Koppert zu bedenken. Für den Anästhesisten und Präsidenten der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes ist die von den Palliativmedizinern angestrebte Trennung der Fächer deshalb "zweitrangig". Hauptsache sei jetzt erst einmal, dass die Schmerzmedizin endlich Pflicht-Lehrstoff für angehende Ärzte werde.

Ähnlich sehen es auch die Verantwortlichen im Bundesgesundheitsministerium. Schmerzmedizin sei so wichtig, dass sie dringend in die Approbationsordnung aufgenommen werden müsse, heißt es von dort. Selbstverständlich müsse die Ausbildung der Ärzte in der Schmerzmedizin über die Versorgung Schwerstkranker und Sterbender hinausgehen, doch ein zusätzliches eigenständiges Fach würde den ohnehin umfangreichen Fächerkatalog im Medizinstudium nur "noch weiter ausdehnen".

Dabei setzt sich sogar die Bundesvertretung der Medizinstudierenden für ein Extrafach ein: "Schmerztherapie ist mehr als Palliativmedizin und Palliativmedizin ist mehr als Schmerztherapie", schreiben die Studenten, eine Kombination sei "nicht sinnvoll". Sie lasse sich nicht "mit einer gezielten Ausbildung im Umgang mit schwerstkranken und sterbenden Menschen" vereinbaren.

Krebspatienten mit palliativer Unterstützung hatten weniger Depressionen

Nicht wenige Menschen fallen am Ende ihres Lebens in ein tiefes Loch: Sie sind unglücklich mit dem, was sie getan haben, stellen fest, wie einsam sie in Wirklichkeit sind, oder sehen keinen Sinn mehr in dem ihnen verbleibenden Leben. Um in dieser Situation zu helfen, benötigen Ärzte spezielle Fähigkeiten, für deren Erwerb sie sich auch mit ihrer eigenen Endlichkeit auseinandergesetzt haben sollten, sagt Borasio: "Jedem Menschen sollte die Möglichkeit gegeben werden, wie Rilke sagt, 'seinen eigenen Tod' zu sterben." Dafür liefere die Palliativmedizin wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse.

Wie wichtig palliative Arbeit ist, zeigte eine aufsehenerregende Studie aus den USA: Patienten mit einem unheilbaren Lungenkrebs, die gleich nach der Diagnose auch palliativ behandelt wurden, litten nicht einmal halb so oft an Depressionen, hatten eine höhere Lebensqualität - und lebten fast drei Monate länger als Patienten, die nur Chemotherapie und Bestrahlung bekamen (NEJM, Bd. 363, S. 733, 2010).

Ungeachtet solcher Erkenntnisse wurden in Deutschland zuletzt nur noch Professuren für Palliativmedizin eingerichtet, die zumeist der Onkologie oder Anästhesie untergeordnet wurden. Dabei hatte die Deutsche Krebshilfe als Stifterin der meisten dieser Lehrstühle ausdrücklich deren Souveränität gefordert. Noch immer täten sich die Hochschulen schwer, "der Palliativmedizin die dringend notwendige Eigen- und Selbstständigkeit zu geben", beklagt Krebshilfe-Geschäftsführer Gerd Nettekoven.

Borasio hofft, dass die Politik nun doch noch zu Gunsten der Eigenständigkeit der Palliativmedizin entscheidet. "Palliativmedizin und Schmerztherapie sind beides wichtige Fächer", betont er. "Sie haben ihren jeweils eigenen Platz im Medizinstudium verdient."

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