Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Allein, allein?

Haben sich in der Pandemie im Schatten des Virus auch Einsamkeitsgefühle ausgebreitet? Ja, aber nicht in einem Ausmaß, das große Aufregung rechtfertigt.

Von Sebastian Herrmann

Als dann auf einmal Millionen Menschen im Home-Office saßen und über Sinn oder Unsinn harter Lockdowns stritten, wurden im Windschatten des Virus zahlreiche weitere Pandemien diagnostiziert. Zum Beispiel setzte sich in der öffentlichen Diskussion hie und da die Ansicht durch, Corona verstärke Einsamkeitsgefühle in besorgniserregendem Ausmaß. In den Wochen vor dem ersten Pandemie-Weihnachtsfest 2020 hatten zum Beispiel Erzählungen über deprimierende Feiertage Hochkonjunktur, in denen von ihren Liebsten isolierte Menschen in Einsamkeit versinken. In zahlreichen Einzelfällen mag das zutreffend gewesen sein. Aber wie sieht es auf gesellschaftlicher Ebene aus, hat die Corona-Pandemie wirklich zu einer Pandemie der Einsamkeit geführt? Eine aktuelle Meta-Analyse von Forschern um Mareike Ernst von der Universität Mainz gibt darauf eine vielschichtige Antwort: Ja, da waren einige Effekte zu beobachten. Doch diese sind offenbar nicht besonders groß und teilweise widersprüchlich. Von einer Einsamkeits-Pandemie zu sprechen sei "daher vermutlich übertrieben", schreiben sie im Fachjournal American Psychologist. "Es gibt eine Zunahme, aber nicht in dem Ausmaß, wie oft behauptet wird", sagt Hauptautorin Ernst.

Die Wissenschaftler werteten 34 einzelne Studien aus, an denen insgesamt mehr als 200 000 Probanden teilgenommen hatten. Dabei legten die Forscher großen Wert darauf, qualitativ hochwertige Studien zu verwenden, insbesondere sogenannte Längsschnittstudien, für die im Laufe eines Zeitraums immer wieder Messungen erhoben werden - in diesem Fall vor der Pandemie und während der Pandemie. Das sei nötig gewesen, sagt Manfred Beutel von der Universität Mainz, der ebenfalls an der Studie beteiligt war, "denn die bisherigen Ergebnisse zu Einsamkeit in der Pandemie waren überaus widersprüchlich". Manche Studien beobachteten eine Zunahme, andere fanden keine nennenswerte Veränderung, und wieder andere Arbeiten schienen sogar einen Rückgang von Einsamkeitsgefühlen zu diagnostizieren. "Die Befunde gingen auseinander", sagt Ernst.

Einsamkeit bedeutet für Laien etwas anderes als für Wissenschaftler

In der aktuellen Analyse identifizierten die Forscher nun einen kleinen, aber signifikanten Anstieg von Einsamkeitsgefühlen. Diesen beziffert das Team um Ernst auf etwa fünf Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Das sei zwar quantitativ kein großer Sprung, aber epidemiologische Studien ergäben selten große Effekte, sagt Beutel, "insofern ist das schon relevant". Vor allem seien Leute unterschiedlich stark betroffen, so Ernst. Wobei die Wissenschaftler auf Basis der ausgewerteten Studien keine eindeutigen Aussagen darüber treffen können, wer in der Pandemie besonders von Einsamkeit betroffen war. Generell ist bekannt, dass im Übergang zum Erwachsenenalter sowie in den hohen Jahren einer Biografie das Risiko für Einsamkeit am höchsten ist. Wie sich das Risiko in der Pandemie auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilt? Darüber lässt sich erst mal nur spekulieren. "Das Home-Office kann ja auch positive Effekte haben", sagt Ernst. Etwa durch einen engeren Kontakt zur Familie, zum Partner, zu den Kindern. Anders sehe das vermutlich unter Studenten aus, so Beutel, denen durch die Corona-Beschränkungen der Zugang zum sozialen Umfeld gekappt worden sei. Für eine exakte Analyse aber fehlen die Daten zu den einzelnen Untergruppen.

Dass in der öffentlichen Diskussion mitunter von einer in so gut wie allen Bevölkerungsgruppen grassierenden Einsamkeits-Pandemie die Rede war, könnte einen einfachen Grund haben: Das Laienverständnis von Einsamkeit deckt sich nicht mit der wissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. "Soziale Isolation ist zwar ein Risikofaktor für Einsamkeit, aber es handelt sich nicht um das Gleiche", sagt Ernst. Wer allein ist, fühlt sich nicht zwangsläufig einsam. Das Gefühl entsteht vielmehr, wenn die eigenen Ansprüche an soziale Kontakte nicht erfüllt werden, wenn diese nicht ausreichen, sie keine Befriedigung oder Sinn stiften. Es ist also auch möglich, sich unter Menschen einsam zu fühlen. Und da tickt jeder anders: So hat zum Beispiel eine Studie aus Deutschland ergeben, dass sich extrovertierte Menschen während der Pandemie in besonderem Maße einsam fühlten.

Ob die beobachtete Zunahme von Einsamkeitsgefühlen in der Pandemie ein per se negatives Zeichen ist, lässt sich offenbar nicht so einfach sagen. "Einsamkeit ist erst mal nicht grundsätzlich etwas Schlechtes", sagt Ernst, "es handelt sich um ein Signal, dass man etwas verändern sollte." Erst wenn sich Einsamkeit chronifiziert, wird sie zur Last und zum Risiko für die physische sowie psychische Gesundheit sowie einen verfrühten Tod. Allein deshalb sollte das Phänomen weiterhin genau beobachtet werden.

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