Ebola:An der Schwelle zur Katastrophe

Ebola: Aufklärung über alle Kanäle: In Liberia wird eine Mauer mit Botschaften bemalt, wie eine Ansteckung mit dem Ebola-Virus vermieden werden kann.

Aufklärung über alle Kanäle: In Liberia wird eine Mauer mit Botschaften bemalt, wie eine Ansteckung mit dem Ebola-Virus vermieden werden kann.

(Foto: AP)

Heute 6000 Infizierte, bald 20 000? Mathematische Modelle zeigen: Alle drei Wochen verdoppelt sich die Zahl der Ebola-Erkrankten, sofern nicht drastisch eingeschritten wird. Doch das wird immer schwieriger.

Von Kai Kupferschmidt

Abends zu Hause, so berichtet es Christl Donnelly, wurde ihr das Ausmaß ihrer theoretischen Berechnungen erst so richtig bewusst. Das Fernsehen zeigte einen verzweifelten Ebolapatienten, der versuchte, in eine Klinik zu gelangen. Alle Betten waren belegt und der Mann wurde abgewiesen. "Das Schicksal hat mich bewegt, und dann habe ich gedacht: Nimm das, was du jetzt fühlst, und multipliziere es mit 20 000", sagt sie. Oder 100 000. Oder einer Million.

Donnelly ist Forscherin am Imperial College in London. Mit Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sie berechnet, wie sich der Ebolaerreger in Westafrika zurzeit ausbreitet. Bisher sind laut WHO fast 6000 Menschen in Guinea, Sierra Leone und Liberia an dem tödlichen Virus erkrankt. 2800 von ihnen sind gestorben. Bleibt die Situation wie sie ist, sind bis Anfang November mehr als 20 000 Fälle zu erwarten, schreiben Donnelly und ihre Kollegen in der aktuellen Ausgabe des New England Journal of Medicine (online vorab).

Auch andere Forscher versuchen den Trend fortzuschreiben. Die Zahl der Kranken und Toten wächst dann schnell auf 50 000, 100 000, eine halbe Million. Die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC etwa, hält inzwischen im schlimmsten Fall mehr als 500 000 Fälle bis Ende Januar für möglich. "Ich hoffe inständig, dass wir nichts derartiges sehen werden", sagt Donnelly. "Aber ich fürchte es ist eine realistische Projektion dessen, was uns erwartet, wenn wir uns nicht aufraffen."

Für Epidemiologen wie Donnelly ist der Kampf gegen eine Epidemie, sei es Ebola, Masern oder die Pocken, im Kern das Ringen darum, eine einzige Zahl zu reduzieren: die Reproduktionsrate R. Diese Kenngröße gibt an, wie viele Menschen ein infizierter Mensch im Durchschnitt ansteckt. Sie ist so etwas wie die Katastrophenschwelle. Liegt R unter 1, so steckt nicht jeder erkrankte Mensch einen weiteren an, und der Ausbruch geht zurück. Ist R aber 2, so steckt jeder erkrankte Mensch, zwei weitere Menschen an. Aus 2 werden 4, dann 8, dann 16. Die Zahl der Kranken und Toten schnellt exponentiell in die Höhe - und genau das beobachten die Forscher zurzeit in Westafrika.

In ihrer neuen Studie hat Donnelly die Reproduktionsrate R von Ebola in den drei betroffenen Ländern abgeschätzt: Sie schwankt zwischen 1,38 in Sierra Leone und 1,81 in Guinea. In der Praxis bedeutet es, dass sich die Zahl der Ebolafälle etwa alle drei Wochen verdoppelt. So werden aus heute 6000 Fällen in drei Wochen 12 000, in sechs Wochen 24 000 und bis Ende des Jahres mehr als 100 000.

Ließe sich die Ansteckungsrate halbieren, wäre die Epidemie schnell eingedämmt

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Theoretisch endet das erst, wenn ein Großteil der Bevölkerung infiziert ist und das Virus keine Opfer mehr findet, sagt Christian Althaus, Epidemiologe an der Universität Bern, der eines der ersten Modelle für den Ausbruch berechnet hat. So würden in Liberia fast drei Viertel der Bevölkerung infiziert, jeder zweite würde an Ebola sterben. Nun glaubt kaum jemand, dass es zu einem solchen Horrorszenario kommt. Aber Modelle wie die von Donnelly und Althaus machen plastisch, was im Kampf gegen Ebola auf dem Spiel steht und wie groß die Herausforderung für die Weltgemeinschaft ist.

Die gute Nachricht dabei: Ebola ist weit weniger ansteckend als andere Erreger. Das Masernvirus zum Beispiel hat eine Reproduktionsrate von etwa 16, ein Erkrankter steckt in einer nicht geimpften Bevölkerung im Schnitt 16 andere Menschen an. Um Ebola in den Griff zu bekommen, müsste die Reproduktionsrate nur halbiert werden. "Wenn wir die Hälfte aller Übertragungen verhindern, dann reicht das, um diesen Ausbruch zu stoppen", sagt Donnelly. Tausende Ärzte und Krankenschwestern riskieren nun ihr Leben, Hunderte Millionen Euro werden ausgegeben, um das R in Westafrika unter eins zu drücken.

Theoretisch wissen Forscher auch, wie das geht: Menschen die Kontakt mit Ebolapatienten hatten, müssen schnell ausfindig gemacht und überwacht werden. Sobald sie Symptome zeigen, müssen sie isoliert werden.

Die schlechte Nachricht: Es ist unklar, ob das noch genügt, wenn ein Ausbruch die Ausmaße annimmt, wie derzeit in Westafrika. Schon jetzt erkranken jede Woche Hunderte Menschen. Sie hatten Kontakt mit Tausenden anderen. "Ab einem gewissen Punkt ist es einfach nicht mehr möglich, so viele Menschen drei Wochen lang zu überwachen", sagt Althaus. "Sie können sich das wie bei einem Waldbrand vorstellen", sagt David Fisman, ein Epidemiologe an der Universität von Toronto: "Wenn jemand sein Strichholz hat fallen lassen, reicht noch ein Eimer Wasser, um das Feuer zu löschen. Aber wenn das zwei Tage gewütet hat, brauchen Sie etwas anderes." Was das sein könnte, ist unklar. Forscher und Ärzte suchen deshalb verzweifelt nach guten Ideen, um einen Ausbruch dieser Größe unter Kontrolle zu kriegen.

Immerhin, ein kleines Signal der Hoffnung hat Donnelly in ihren Daten entdeckt. Nach ihren Berechnungen hat sich die Reproduktionsrate von Ebola seit Beginn des Ausbruchs leicht reduziert, am deutlichsten in Sierra Leone von 2,02 auf 1,38. "Das könnte ein Zeichen sein, dass die Hilfsmaßnahmen einen ersten Effekt zeigen", sagt sie. Es könnte aber auch eine Täuschung sein, sagt Althaus. Möglicherweise breitet sich das Virus immer noch genau so schnell aus, aber weil alle Krankenhausbetten belegt sind, findet ein immer größerer Teil dieses Ausbruchs im Dunkeln statt. "Das ist eine Erklärung, die ich nicht ausschließen kann", sagt Donnelly. Die WHO schätzt, dass womöglich nur jeder vierte Ebolafall gemeldet wird. Sollte das der Fall sein, wären schon heute 20 000 Menschen betroffen.

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