"Nichts Geringeres als die Zukunft Afrikas" steht für Weltbank-Chef Jim Yong Kim auf dem Spiel. Der UN-Sicherheitsrat sieht eine Bedrohung für den Weltfrieden: Ebola hält die Welt in Atem wie lange keine Seuche mehr. Doch im Schatten dieser Epidemie wütet eine Krankheit, die deren Opferzahlen bei weitem übersteigt: Durchfall. Die Ebola-Welle verstärkt das Problem noch. "Hunderte von Kindern bleiben im Moment unterversorgt und sterben - vor allem an eigentlich leicht behandelbaren Krankheiten", sagt Kinderärztin Sara Hommel, die in Sierra Leones Hauptstadt Freetown arbeitet.
In Liberia, wo das Ebola-Virus mehr als 2700 Menschen getötet hat, sterben jedes Jahr mehr als 10 000 Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. Eine der Haupttodesursachen ist Durchfall. Ähnlich sieht es für Sierra Leone aus, wo von 1000 Kindern unter fünf Jahren beinahe 200 nicht überleben. Weltweit sterben derzeit etwa eine Million Kinder jährlich an Durchfall. Exakte Zahlen gibt es nicht, die Dunkelziffer könnte noch höher sein.
Oftmals reichen Tee und Bettruhe - aber nicht in Westafrika
Durchfall ist seit Jahrzehnten eine der größten Gesundheitsgefahren für Kinder - eine Krankheit, die im Unterschied zu Ebola einfach zu behandeln wäre. Doch warum wird Ebola als Katastrophe gesehen, während im Stillen Millionen Kinder sterben?
Sabine Gabrysch vom Institut für Public Health der Uniklinik Heidelberg forscht seit Jahren zur Gesundheitsversorgung von Frauen und Kleinkindern. "Ebola ist außer Kontrolle und bedroht das gesamte Gesundheitssystem in den betroffenen Ländern", sagt sie und warnt davor, Opferzahlen gegeneinander aufzurechnen.
Häufige Erreger sind Rotaviren
Im Unterschied zu Ebola aber sind Durchfallerkrankungen keine medizinische Herausforderung. Eigentlich. Verunreinigtes Wasser ist die Haupt-Infektionsquelle. Häufige Erreger in Ländern südlich der Sahara sind Rotaviren, deren Übertragung schon mittels einfacher Hygieneregeln, wie Händewaschen, verhindert werden könnten. In Industrienationen überleben die allermeisten Kinder eine Infektion ohne bleibende Schäden - oftmals reichen Tee und Bettruhe. Gegen Rotaviren gibt es zudem eine Schluckimpfung, die aber viele Kinder in ländlichen und armen Gebieten in Afrika und Asien nicht erreicht.
In Teilen Afrikas ist Durchfall daher besonders tückisch: Die hohe Zahl an Todesopfern unter Kindern ist mit deren schwachem Immunsystem zu erklären. Hauptursache ist der in der Fachsprache bezeichnete "stille oder verborgene Hunger": Die tägliche Ration Reis oder Mais füllt zwar die Bäuche, doch satt werden alleine reicht nicht.
Millionen Menschen, besonders Frauen und Kindern, fehlt es an lebenswichtigen Nährstoffen wie Vitaminen, Eisen und Zink. "Die Kinder sind ein bisschen kleiner, müder, aber nicht todkrank", sagt Medizinerin Gabrysch. Langfristig aber ist die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt und die Kinder sterben eher an Durchfall und anderen Infektionskrankheiten, weil ihr Körper zu schwach ist, um sich gegen Keime zu wehren. Der stille Hunger ist auch ein stiller Killer.
"Ihnen fehlt die politische Lobby"
Doch "Kinder mit Vitaminmangel haben keinen Schreckeffekt", sagt Gabrysch. "Ihnen fehlt die politische Lobby." Die Medizinerin kritisiert, dass Ernährungshilfen der Vereinten Nationen zwar bei akuten Hungersnöten funktionierten, langfristig aber nicht genug gegen den stillen Hunger getan werde.
Ähnlich wie Ebola ist Durchfall also nicht ausschließlich ein medizinisches Problem. Globalisierungskritiker weisen seit Jahren auf eine verkorkste Nahrungsmittelpolitik Europas und der USA hin. Durch Schutzzölle, Importverbote und Überschussproduktion geraten weltweit Lebensmittelpreise außer Kontrolle. Neben Dürren und unfruchtbaren Böden ist die Spekulation mit Nahrungsmitteln eine der wichtigsten Ursachen von Hungersnöten.
Claudia Prinz, Historikerin an der HU Berlin, forscht zu den gesellschaftlichen Ursachen der Durchfallpandemie. Ihr Urteil: "Durchfall ist eine klassische Armutskrankheit." Sie weist darauf hin, dass internationale Gesundheitspolitik derzeit vermehrt unter dem Aspekt der Sicherheit gedacht werde. Während Ebola zur Gefahr für die Industrienationen werden könnte, ist Durchfall keine Bedrohung für Europa und die USA. Die Motivation, sich im Kampf gegen Durchfall zu engagieren, sei auch deshalb gering, so Prinz.
Mit Salzlösungen ist es nicht getan
Die Vereinten Nationen haben die Senkung der weltweiten Kindersterblichkeit als eines der acht Millenniums-Entwicklungsziele ausgerufen. Mit speziellen Programmen will die WHO die Ernährung von Kindern verbessern und damit Durchfallerkrankungen mindern. Ehrgeizige Ziele - die bislang nicht erreicht werden. Das komplexe und langfristige Problem des chronischen Hungers bedarf eines politischen Wandels - weltweit. Hunger ist eng verbunden mit schlechter Landwirtschaft, geringer Bildung und ungleicher Verteilung von Reichtum. Mit Salzlösungen für an Durchfall erkrankte Kinder alleine ist es nicht getan.
Eine neue Sicht auf die alten Probleme könnte nun ausgerechnet die Ebola-Epidemie bringen. Sie könnte zu der Einsicht verhelfen, dass Gesundheitsversorgung nicht in einzelnen Epidemien gedacht werden kann, sondern nur als System. Davon könnten dann womöglich auch Millionen Kinder profitieren, die an Durchfall erkranken. Jeden Tag, jedes Jahr.